Medienethische Grenzfälle gemessen an Beispielen der journalistischen Praxis

Der schmale Grat zwischen dem allgemeinen Interesse der Öffentlichkeit und der Menschenwürde.

„Deutsche Medien sollen auch künftig die Herkunft von Straftätern nur bei begründetem Sachbezug nennen“. So lautete die Entscheidung des Deutschen Presserats zur Nationalitätennennung von Straftätern am 09.03.2016. Zur länger schon angestrebten Änderung der entsprechenden Richtlinie im Pressekodex kam es nicht. In Deutschland wird diese Entscheidung durchaus mit Bedauern quittiert. „Wenn Medien bestimmte Informationen nicht nennen dürfen während zur selben Zeit auf Facebook über die Täterherkunft zu lesen ist, drohe ein Glaubwürdigkeitsproblem“, so Helge Matthiesen, Chefredakteur des „General-Anzeigers“ aus Bonn. Spätestens nach der Berichterstattung über die Silvesterereignisse in Köln wird erneut darüber spekuliert, ob man Richtlinienergänzung 12.1 des Pressekodex eliminieren solle. Dem deutschen Medienforscher Horst Pöttker zu Folge beruht die Regel auf der Vorstellung, dass das Publikum nicht mündig ist, dass es Vorurteile hat und mit Informationen nicht umgehen kann. Eine Einschränkung seitens des Pressekodex hält er für zu pädagogisch gedacht. Der Journalist müsse frei in seiner Beurteilung sein, bei der Berichterstattung über mögliche Straftäter unter Berücksichtigung des Kontextes die ethische Zugehörigkeit zu benennen oder auch nicht. Bernhard Pörksen sieht in der gegenwärtigen Kritik am Pressekodex einMissverständnis seiner Funktion. „Der Pressekodex zielt nicht auf die Bevormundung des Publikums, sondern auf die Qualitätsdebatte im Journalismus“. Für weitere Debatten im Rahmen dieser Richtlinie scheint der Boden bereitet.

Nennung der Herkunft von Tätern

In österreichischen Medien stellt die bloße Nennung der Herkunft keinen Ethikverstoß dar. Der Senat des Presserats ist der Ansicht, dass die bloße Erwähnung der Herkunft eines mutmaßlichen Straftäters für sich alleine zwar noch nicht gegen den Ehrenkodex für die österreichische Presse verstößt – vorausgesetzt, dass die betroffene Gruppe dadurch nicht pauschal als kriminell dargestellt oder verunglimpft wird. Dennoch könne auch die bloße Nennung der Herkunft von Straftätern bei manchen Lesern eine negative Einstellung und Ressentiments gegenüber der betroffenen Gruppe hervorrufen. Als Folge dessen können Vorurteile geweckt oder verstärkt werden, heißt es. In Fällen in denen die Herkunft des Täters für die Schilderung der Straftat und für das Verständnis der Leser nicht relevant ist, solle nach Meinung des Senats dann darauf verzichtet werden, die Herkunft zu nennen.

Ein Beispiel aus der journalistischen Praxis zeigt, dass auch die Täterherkunftsnennung grenzfällig sein kann. In einem Artikel aus dem „Kurier“ vom 23.02.2015 wurde über die Festnahme eines 22-jährigen italienischen und in Salzburg lebenden Eishockeyspielers berichtet, der dabei einen 51-jährigen Beamten mit einem Gürtel schwer verletzt habe. Aufgrund der Tatsache, dass der Artikel keine abwertende oder sonst wie negative Tendenz Italienern gegenüber enthielt, beschloss der Senat, in diesem Fall kein selbständiges Verfahren einzuleiten. Für eine Persönlichkeitsverletzung sieht der Senat keine Anhaltspunkte. Die bloße Nennung der Nationalität des mutmaßlichen Täters ist nach Ansicht des Senats nichtdiskriminierend.

Spannungsfeld öffentliches Interesse und Persönlichkeitsschutz

Raum für Grenzfälle ist abgesehen von der Herkunftsnennung von Tätern auch in der Thematik Persönlichkeitsschutz geboten. Eine Thematik, die seit dem Fall Lady Diana mehr in den Fokus von Medienkontrollgremien gerückt ist. Mit Verstößen gegen den Punkt 5 des Ehrenkodex (Persönlichkeitsschutz) muss sich der österreichische Presserat Jahr für Jahr auseinandersetzen. Als Teil einer umfassenden Berichterstattung sind persönliche Einzelheiten der Beteiligten notwendig, rechtfertigen sich die Medien. Die Grenze der persönlichen Einzelheiten wird laut Presserat überschritten, wenn Eingriffe in die Persönlichkeitssphäre erfolgen. So geschehen bei der Berichterstattung rund um die Ermordung eines 54-jährigen Grazers im Mai 2014. Die Veröffentlichung des vollen Namens sowie eines unverpixelten Fotos des Opfers sind dem Presserat zufolge Eingriffe in die Privatsphäre, die es zu schützen gilt. Dieser Schutz gehe über den Tod hinaus, wie betont wird.Pauschal kann über derartige Fälle jedoch nicht entschieden werden, da die Frage nach dem öffentlichen Interesse im Einzelfall berechtigt sein muss.

Wahrung der menschlichen Würde vs. Veröffentlichung von brutalem Bildmaterial

„Was dürfen Bilder im Rahmen einer Berichterstattung zeigen?“, ist eine medienethische Frage, die für Gesprächsstoff sorgt. So meint die freie Schweizer Journalistin Corine Turrini Flury, dass weder Kriege, Massaker noch Katastrophen verschwiegen werden sollen. Es müsse differenziert werden zwischen Bildern mit Informationscharakter und Bildern mit Sensationscharakter. Ein drastisches Bild als Teil einer Reportage in einem Printmagazin ist daher abzugrenzen von einer Twitter-Kurzmeldung und einem dazugehörigen brutalen Bild. Als Konsequenz davon sollten sich Journalisten immer wieder fragen, welche Bilder, wem, auf welchem Kanal gezeigt werden. In der täglichen journalistischen Praxis wird über Gräueltaten in allen Teilen des Erdballs in Textform berichtet. Ergänzt mit schockierendem Bildmaterial soll dem Leser die real existierende Brutalität aufgezeigt werden. So geschehen in einem Bericht aus dem Jahr 2015 in der „Kronen Zeitung“ („Neue grausame Morde des IS“, erschienen auf Seite 5 der Kronen Zeitung vom 25.06.2016). Konkret wurden mehrere Bilder der Leichen zweier gesteinigter Männer, das Bild eines auf dem Boden knienden Mannes vor seiner Enthauptung, ein Bild, auf dem einem Mann die Hand abgehackt wird, mehrere Bilder von Gefangenen mit durchgeschnittener Kehle und ein Bild, auf dem ein Jugendlicher mit einer Pistole auf den Kopf eines auf dem Boden knienden Mannes zielt, gezeigt. Folgende Berichterstattung hatte ein auf Initiative des Presserats geführtes Verfahren zur Folge. Nach Auffassung des Presserats verstoße die Veröffentlichung dieses Bildmaterials eindeutig gegen Punkt 5 des Ehrenkodex für die österreichische Presse, wonach jeder Mensch Anspruch auf Schutz der Würde der Person hat. Zudem zählt der Moment des Todes zu der Privatsphäre des Sterbenden. Die „Kronen Zeitung“ rechtfertigte sich mit der Pflicht, die Öffentlichkeit von den schrecklichen Verbrechen der Terrormiliz „Daesh“zu unterrichten. Diesem Argument hielt der Presserat die ausschließliche Bedienung der Sensationslust entgegen. Dieses Beispiel spiegelt einmal mehr die medienethischen Grenzen.

In den Onlinemedien wird als Teil der Berichterstattung auch die Möglichkeit der Anreicherung mit Filmmaterial in Betracht gezogen. Auch für diese Form sind medienethische Grundsätze anwendbar. Ein Videoblog vom 24.08.2014 mit dem Titel „Die Verführungskraft des Jihadismus“, veröffentlicht auf „derstandard.at“, sorgte für eine Debatte im Senat des Presserats. In diesem Videoblog wurden Erschießungsszenen im Kriegsgebiet des „Daesh“ gezeigt. Die Argumentation des Autors von „derstandard.at“ wonach die Videoausschnitte die Grausamkeit des „Daesh“ dokumentieren soll führte zur Einstellung des Verfahrens. Ausschlaggebend für die Einstellung waren, dem Presserat nach, zur Folge allerdings die Verpixelung und die eher schlechte Bildqualität der Erschießungsszenen.

Diskriminierung wegen ethnischen, nationalen und religiösen Gründen

In ihrer unmittelbaren Form äußert sich Diskriminierung darin, dass ein Individuum „eine weniger günstige Behandlung erfährt, erfahren hat oder erfahren würde als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation“ (§32 Abs. 1 Gleichbehandlungsgesetz). Der Ehrenkodex der österreichischen Presse thematisiert das Diskriminierungsverbot in einem eigenen Punkt 7. So lautet dieser Punkt: „Jede Diskriminierung wegen des Alters, einer Behinderung, des Geschlechts sowie aus ethnischen, nationalen, religiösen, sexuellen, weltanschaulichen oder sonstigen Gründen ist unzulässig.“

Trotz Verankerung des Diskriminierungsverbots im Ehrenkodex der österreichischen Presse blieben Verstöße in den Medien nicht aus. So geschehen in einem Artikel der „Kronen Zeitung“ im Jahr 2014. Dabei erkannte der Presserat eine Unterstellung gegenüber Muslimen zur generellen Gewaltbereitschaft und daraus folgend eine Diskriminierung aus religiösen Gründen. Auslöser für dieses Urteil ist die direkte Verbindung des Opferfests, als eines der wichtigsten religiösen Feste im Islam, mit dem Jihadismus.

Sensationsjournalismus kennt keine Grenzen, auch nicht für die Wahrung der Intimsphäre

Der Sensationsjournalismus schreckt vor nichts zurück: Veröffentlichungen von privaten Aufnahmen, Bekanntgabe von vollen Namen und detaillierte Schilderungen von privaten Geschichten. Je mehr private Informationen eine Geschichte beinhaltet, umso besser lässt sich diese verkaufen. Beeinträchtigungen im Lebensstil der Opfer werden jedoch nur in den seltensten Fällen wahrgenommen. Bloßstellungen in den Medien führen für Geschädigte oft zu Rufschädigung und zu psychischen Belastungen. Natürlich ist dies auch ein Phänomen für sich selbst, da Leserinnen und Leser gezielt diese Beiträge nachfragen. Und ohne eine Nachfrage ließe sich im unternehmerischen Sinn kein Angebot erstellen. Es würde zu Marktversagen führen. Rezipienten wählen bewusst und selbstständig ihr gewünschtes Medium und wissen in der Regel auch, welche Inhalte sie bekommen und ob bestimmte Anbieter politisch gefärbt sind. Dieses Verhalten lässt auf ein öffentliches Interesse und auf ein bewusstes Bedürfnis dieser Medieninhalte zurückschließen.

Ein Fall zum Themengebiet „Verletzung der Intimsphäre“ trat am 17.06.2014 in der Tageszeitung Österreich auf, wo gegen die Punkte 2.1 (Korrektheit in Recherche und Wiedergabe von Nachrichten), 5 (Persönlichkeitsschutz), 6 (Intimsphäre) und 8 (Materialbeschaffung) des Ehrenkodex für die österreichische Presse verstoßen wurde. In diesem Artikel wurde geschildert, wie ein Bub im Volksschulalter von einer Betreuerin in einem Kinderheim verprügelt wurde. Der Vorname und das Alter des Minderjährigen wurden genannt, ebenso wie der Name des Heims, in dem sich der Vorfall abspielte. Der junge Bursche beklagte sich über ein unzureichend verpixeltes Foto, wodurch er für Personen in seinem Umfeld identifizierbar war. Außerdem sei das Foto ohne Bewilligung des Obsorgeberechtigten veröffentlicht worden.

Der Senat bestätigte, dass der Junge durch die veröffentlichten Informationen (Name, Alter und Aufenthalt) identifizierbar sei. Auch die Schilderung der Misshandlung sei zu detailliert ausgefallen. Dadurch entstand eine Verletzung der Persönlichkeitssphäre und somit der Verstoß gegen 5.1 des Ehrenkodex. Zusätzlich war es ein Eingriff in die Intimsphäre, was gegen den Punkt 6.1 des Ehrenkodex verstößt.

Suizidberichterstattung 

Die Offenlegung von Suiziden in Medien ist ein weiteres wie sensibles Thema. Speziell die Veröffentlichung von Namen der Suizidopfer, eine ausführliche Schilderung des Tatherganges und die Abschätzung, ob ein öffentliches Interesse besteht, ist besonders in der Suizidberichterstattungheikel.

Einerseits soll das Thema Suizid nicht tabuisiert werden, da es ein Thema ist, dass für die Gesellschaft relevant ist. Veröffentlichungen in den Medien können mithelfen, das Bewusstsein der Allgemeinheit für dieses Problem zu schärfen und das Individuum auf diese Thematik aufmerksam zu machen. Andererseits können sich Personen, welche sich in psychischen Krisensituationen befinden, durch einen detailliert geschilderten Vorfall verleiten lassen und den Suizid ähnlich wie beschrieben nachahmen.

Ein Streitfall ereignete sich durch einen im Bezirksblatt erschienenen Artikel vom 04.01.2016. Ein in der Gemeinde gut angesehener Arzt legte ein Feuer in seiner Wohnung und beging anschließend Suizid. Im Artikel von „www.meinbezirk.at/zwettl“ wurde der vollständige Name des Opfers genannt und der Vorgang des Suizides ausführlich geschildert. Als Begründung der detaillierten Berichterstattung wurde verkündet, dass ein öffentliches Interesse der Mitbewohner bestehe. Somit sollte bestätigt werden, dass es sich um keine Brandstiftung handle und derzeitige Patienten Auskunft darüber bekamen, dass sie einen neuen Hausarzt aufsuchen müssen. Die Schwester des renommierten und angesehenen Arztes hingegen reicht eine Beschwerde wegen Rufschädigung ein und beanstandet die Verletzung des Persönlichkeitsschutzes. Der Senat betont, dass gemäß Punkt 12 des Ehrenkodex über Suizide zurückhaltend zu berichten ist und eine Namensnennung nicht notwendig gewesen sei. Das Opfer wäre durch die Bezeichnung „Gemeindearzt“ für alle Personen identifizierbar gewesen. Durch die Veröffentlichung des Artikels im Internet sei dieser für einen großen Personenkreis ersichtlich, wodurch der Arzt für diese große mögliche Anzahl an Leser keine Person des öffentlichen Lebens sei.

Abschließend bleibt eine Frage offen – warum trotz des Wissens über die Bedeutung von Medienethik im Journalismus ethisch-moralische Grenzen innerhalb journalistischer Berichterstattung immer wieder überschritten werden? Die Analyse der einzeln recherchierten Grenzfälle verdeutlicht, dass Themen aufgrund ihrer Charakteristik und Brisanz an sich schon einen Zielkonflikt schaffen. Abgewogen wird zwischen dem öffentlichen Interesse und der medienethischen Grenze in der Berichterstattung.
Im Pressebereich versteht sich der österreichische Presserat als Selbstregulierungsbehörde zur Anregung von medienethischen Diskussionen. Stichwort Selbstregulierung – da der Ehrenkodex für die österreichische Presse nur als ethische Richtschnur agiert, werden ethische Grenzfälle weiterhin das Ergebnis journalistischer Berichterstattung sein.
Ein wesentliches und in allen genannten Grenzfällen zu Grunde liegendes Element des Journalismus ist die Suche nach dem Scoop und dem publizistischen Wettbewerb, als erste Redaktion mit einer Meldung wahrgenommen zu werden. Hierbei bleiben mitunter ausschlaggebende Fakten und Tatsachen nicht ausreichend geprüft.
Gerade in einer Zeit, in der Redaktionen auf einen globalen Pool an Informationen zugreifen können gilt es, den Geschwindigkeitszwang den auf geprüften Fakten und im Rahmen ethisch-moralischer Grenzen basierenden Journalismus kritisch gegenüberzustellen.

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