Die Gefahr sich im virtuellen Dschungel der medialen Angebote zu verirren ist nicht weniger bedrohlich als im realen.
Wie jede/r täglich beobachten kann, zählen Jugendliche zu den eifrigsten Nutzern sozialer Medien. Egal wo, daheim, in der Schule, auf der Straße, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, es wird auf dem Smartphone gewischt, getippt und eifrig mit einer Unzahl echter oder vermeintlicher Freunde/Freundinnen kommuniziert. Neurowissenschaftler der Uni und der ETH Zürich haben kürzlich sogar festgestellt, dass der flinke Daumen eine bestimmte Hirnregion wachsen lässt. Wird also der aus dem Psychologieunterricht bekannte Penfieldsche Homunculus bald neu gezeichnet werden müssen? Der ganze Tagesablauf der Jugendlichen wird akribisch dokumentiert und ins Netz gestellt. Jede Pizzaschnittte, jedes Smoothie wird liebevoll in Szene gesetzt und mit dem Handy fotografiert und die Anzahl der Selfies in den seltsamsten Posen und Duckface-Grimassen übersteigt die Vorstellungskraft jedes Hobbyfotografen der Elterngeneration. Die Jungen sitzen vielleicht allein auf einer Parkbank oder daheim auf dem Sofa und wähnen sich doch umgeben von einem Schwarm wohlwollender Freunde. Viele, vielleicht sogar die meisten, hat man wahrscheinlich noch nie von Angesicht zu Angesicht kennengelernt Doch das tut der Begeisterung keinen Abbruch. Die Verbreitung der Sozialen Medien ist gigantisch und wahrhaft weltumspannend. Ist somit die schöne Utopie der einen, miteinander verbundenen Menschheit wahr geworden? Man könnte es glauben, wenn man die Nutzungsdaten betrachtet. Der Anteil der 16-Jährigen, zum Beispiel, die sich in den sozialen Netzwerken tummeln, liegt laut Statista.de bei stolzen 93%, davon haben 85% einen Facebook-Account. Die Zahlen wurden 2014 zwar für Deutschland erhoben, dürften aber nicht wesentlich verschieden sein, was österreichische Jugendliche und deren Präsenz auf sozialen Plattformen betrifft.
Die Online-Aktivitäten der Jugendlichen wirken sich zunehmend auch auf die Offline-Kultur aus, indem sich etwa Kommunikationsroutinen verändern. Das Internet ist für Jugendliche besonders interessant, weil es ihnen hilft den alters- und entwicklungsbedingten Wissensdurst zu befriedigen, rasche Antworten auf Fragen und hochaktuelle Informationen zu allen möglichen Themen zu erhalten. Sie können vorhandene Verbindungen vertiefen und neue soziale Kontakte knüpfen und nicht zuletzt auch Spaß haben.
Die Dominanz von Facebook
Facebook ist die Kommunikationsplattform erster Wahl und hat ähnliche Angebote schon längst verdrängt. (Allein China geht einen Sonderweg mit WeChat, einem Parallelprodukt, das hunderte Millionen User erreicht). Facebook gestattet Postings, Chats, den Austausch von Fotos und Videos und ist heute die zentrale Informationsquelle für Jugendliche (Sport, Bands Spiele, Hausübungen, Termine, Neuigkeiten…). Informationen werden in und über Facebook-Gruppen weitergegeben. Wer daran nicht teilnimmt, hat die Illusion, keine Stimme und keine Infos zu haben. Das führt zu einem starken sozialen und institutionellen Druck ständig online sein zu müssen.
Facebook spielt auch eine Rolle im persönlichen Beziehungsmanagement. Die jugendlichen Nutzer fühlen sich mit ihren Kontakten durch „strong“ oder „weakties“ verbunden. Facebook verkürzt Langeweile durch Zeitvertreib und Unterhaltung. Die Nutzung wird zur Alltagsroutine und scheint unverzichtbar.
Von der Routine zur Zwangsstörung
Die Routine kann allerdings zum Zwang werden, in manchen Fällen sogar zu suchtartigem Verhalten führen. Laut Guardian gibt es in den USA Bestrebungen Internetsucht offiziell als ernsthafte klinische Störung einzustufen. Im American Journal ofPsychiatry listet Jerald Block vier Hauptmerkmale der Internetsucht auf:
1. Übertriebener Gebrauch mit Verlust des Zeitgefühls und Vernachlässigung elementarer Bedürfnisse.
2. Rückzug, wenn der Computer/das Medium nicht verfügbar ist, verbunden mit Gefühlen von Wut, Anspannung und/oder Depression.
3. Das Verlangen nach einem immer besseren und leistungsfähigerem Endgerät, mehr Software, längerer Nutzungszeit.
4. Negative Auswirkungen wie Streit, Lügen, schlechte Leistungen in Schule, Studium oder Beruf, soziale Isolation und ständige Müdigkeit.
Besonders schlimm dürfte die Situation in Südkorea sein, wo die Internetsucht zu einem ernst gesundheitlichen Problem bei Kindern geworden ist. Nach Schätzungen der Regierung dürften 210.000 Kinder betroffen sein und Therapie brauchen, 80% müssten mit Psychopharmaka behandelt werden, beinahe ein Viertel sollte stationär in ein Spital aufgenommen werden. Der/die durchschnittliche Oberschüler/in verbringt 23 Stunden pro Woche mit Online-Spielen, 1,2 Millionen Schüler/innen sind gefährdet und würden Aufklärung und Beratung brauchen. In Berichten von Schulabbrechern wird deutlich, dass sie den Computer der direkten persönlichen Kommunikation mit einem menschlichen Gegenüber vorziehen. Ähnliche Zustände herrschen in China, wo 13.7% der jugendlichen Internetuser, das sind ca. 10 Millionen, als süchtig eingestuft werden sollten.
Jerald Block von der Oregon Health&Science University in Portland schreibt, dass es für die USA schwierig ist, genaue Zahlen zu erhalten, da dort die Jugendlichen eher daheim als in Internetcafés surfen, aber er vermutet ähnliche Fälle. Abschließend stellt er fest, dass die Internetsucht weitgehend behandlungsresistent ist und eine hohe Rückfallrate aufweist. Im Übrigen glaubt er nicht, dass spezielle Internetseiten oder Angebote schuld seien, sondern dass vielmehr die Beziehung zum Gerät im Mittelpunkt steht. Es wird für die süchtigen Jugendlichen zum Partner, für den sie Gefühle entwickeln, die sie von der Erfahrung der realen Welt durch eine Anzahl von Mechanismen abhalten (z.B. E-Mails, Spiele, Pornographie). Letztlich nimmt ihr elektronischer Gefährte einen enormen Teil ihrer Lebenszeit in Anspruch. Wird die Verbindung abrupt unterbrochen, ist es für sie der Verlust ihres besten Freundes und sie reagieren mit Depression oder Wut.
Sexting- und Pornsucht als Sonderformen der Internetabhängigkeit
In den USA dürften Pornsucht und Sexting die Nummer Eins unter den Sonderformen der Internetsucht sein. „Pocket Porn“ ist durch die Verbreitung der mobilen Geräte zu einem bedeutenden Problem bei jungen und erwachsenen Männern geworden, Sexting betrifft vor allem Mädchen und Frauen. Menschen, die ein gering entwickeltes Selbstbewusstsein haben, an Körperbildstörungen oder einer unbehandelten Sexualdysfunktion leiden, sind am meisten gefährdet, eine Sexting- oder Pornographiesucht zu entwickeln.
Die Entwicklung zeigt sich darin, dass Leute, die nie zuvor etwas mit Pornographie zu tun hatten, durch die Verfügbarkeit entsprechenden Materials online Anzeichen einer Sucht entwickelten, so die Thearpeutin und Autorin Kimberley Young, die die Website netaddiction.com betreibt und das Digital DetoxRecoveryProgram entwickelt hat. 60% ihrer Klienten, die eine Spezialtherapie gegen ihre internetbasierte Pornographiesucht in Anspruch nahmen, waren Leute, die normalerweise keinen Stripclub besuchen oder sich pornographische Videos ausleihen würden. Wenn das schon für Erwachsene gilt, umso mehr muss man sich um Jugendliche Sorgen machen, die charakterlich noch nicht gefestigt sind und entwicklungsbedingt entsprechend experimentierfreudig und neugierig sind. Viele User sitzen dabei der Vorstellung auf, dass ihre Bewegungen im Netz nicht nachvollziehbar sind. Die Anonymität des Cyberspace, glauben sie, erlaube es ihnen ihr Alter, ihren Familienstand, ihr Geschlecht, ihre Rasse, ihren Beruf oder ihr Aussehen geheim zu halten.
Jugendliche als Opfer und Täter
Die scheinbare Anonymität des Internets verleitet Jugendliche zu unbedachten Aussagen, zu Beschimpfungen unbeliebter Schulkollegen oder Sportkameraden, zu wahren Rachefeldzügen gegen Ex-Freunde oder Ex-Freundinnen. Opfer von Cybermobbing (im englischsprachigen Raum Cyberbullying) sind vornehmlich Mädchen – oft verbunden mit Sexting – und homosexuelle Burschen. Immer wieder ist von Jugendlichen zu lesen, die durch Cybermobbing in den Selbstmord getrieben wurden.
Eltern, Lehrer, Psychologen und Teenager gründeten im Juni 2013 in Nordirland das internetbasierte Projekt NoBullying.com. Welchen Nerv sie damit getroffen haben, zeigt die Tatsache, dass nach kaum zwei Jahren des Bestandes der Website sie von 650.000 Menschen pro Monat besucht wird. 2000 Artikel wurden bisher veröffentlicht und einige der schlimmsten Fälle dokumentiert. Darunter befinden sich Beispiele von kaum 13-oder 14-jährigen Buben und Mädchen, die keinen anderen Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage sahen als sich das Leben zu nehmen. Die Mitarbeiter von NoBullying.com berichten, dass mehr als 14% von Sekundarschülern schon daran gedacht haben, Selbstmord zu begehen und dass 7% es schon versucht haben.
Ich im Netz
Das in Wien ansässige Büro für nachhaltige Kompetenz veröffentlichte Ende 2013 unter dem Titel „Ich im Netz“ die Ergebnisse einer empirisch-qualitativen Studie über die Selbstdarstellung von weiblichen und männlichen Jugendlichen in sozialen Netzwerken. 46 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 20 Jahren wurden in fünf Schulen in jeweils zwei Workshops zur Facebook-Nutzung befragt. Auch hier zeigt sich, dass die Jugendlichen in ihrem Kommunikationsverhalten zwischen „Insider“ und „Outsider“ unterscheiden und dass es nicht geraten scheint, sich als Outsider sehen zu müssen. Burschen erzählen von Facebook-Fights, die dem Tatbestand des Mobbing schon recht nahekommen, Mädchen konkurrieren um soziale Anerkennung (die sich in möglichst vielen „Likes“ niederschlägt) durch ihr Aussehen mit Bildern, die sie möglichst attraktiv erscheinen lassen sollen. Eine Schülerin drückt das so aus: „Dass man halt die Bestätigung hat, ja ich habe einen guten Körper, wenn ich so viele Likes habe, dass ich mit mir zufrieden sein kann.“
Die Burschen beziehen die Likes eher auf ihre (z.B. sportlichen) Leistungen.
Auffallend ist, wie stark die Neigung zu Normierung und Konformität unter den Jugendlichen ist. Die Autorinnen der Studie kommen zu dem Befund:
„Die von den Jugendlichen angestrebte Individualität ist – bei einer Betrachtung von außen – keine. Durch die sozial erwünschten, impliziten Regeln des Handelns, was und wie etwas auf Facebook dargestellt werden soll oder muss, kommt es zu einer Normierung der Individualität in den Peergroups. Dies führt zur kollektiven Identität.“
Die Autorinnen beschreiben auch den Befund eines stereotypen Systems der Zweigeschlechtigkeit und die Reproduktion von Geschlechterstereotypen durch die Jugendlichen selbst. Fotos gelten als Beleg der körperlichen Attraktivität. Der Widerspruch zwischen Anspruch und tatsächlichem Handeln zeigt sich auch in der Forderung nach Authentizität nach dem Motto „Sei du selbst, aber bitte nur positiv“. Gefühle wie Trauer und Einsamkeit werden von den Schüler/innen als Mittel gesehen, Aufmerksamkeit zu erlangen. Positives wird eher kritiklos hingenommen.
Ausblick
Was erzählt uns all dies über die Kompetenz der Jugendlichen, sich einen sicheren Weg durch den Mediendschungel zu bahnen? Das technische Know-how dürften sie ja haben, die nötige Einsicht in verantwortungsvolles und sozial kompatibles Handeln eher (noch) nicht. Eine Besonderheit der Kommunikation im Netz liegt darin, dass sie im Prinzip nicht vergänglich ist und obendrein unendlich oft reproduzierbar als Wort, Foto oder Film. Das zu bedenken, könnte ein wichtiger Wegweiser im Mediendschungel sein.
Regierungsstellen, pädagogische Einrichtungen, Eltern und Jugendverbände sind sich einig darin, dass der Medienkompetenz heute eine Schlüsselfunktion zukommt, damit Kinder und Jugendliche souverän und selbstbestimmt in der digitalen Welt bestehen können. Die sozialen Medien sind aus der Welt der jungen nicht mehr weg zu denken und bieten großartige Möglichkeiten Individuen und Gruppen miteinander zu vernetzen. Es bedarf allerdings noch größerer Anstrengungen dieses Potenzial im Sinne der „Mobilisierung der Träume“ von grenzenloser Kommunikation, Demokratisierung von Wissen oder gar den Beginn ewigen Friedens durch besseres gegenseitiges Verständnis zu verwirklichen.
AUTORIN
Lilian Dobes
Bild: unsplash.com: William Iven