Die Erinnerung trügt – Oral History unter die Lupe genommen

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Check – Double Check – Recheck. Es ist die goldene Regel des Journalismus und zeichnet erfolgreiche Publikationen aus. Doch wie steht es um die Quellenkritik im Bereich der Oral History und was braucht es, um diese Art der mündlichen Geschichtsschreibung durchzuführen? SUMO sprach darüber mit Univ.-Prof. Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, und Ernst Pohn, Sendungsverantwortlicher der „zeit.geschichte“ auf ORF III.

Die Erinnerungen von ZeitzeugInnen sind wichtige Faktoren in der Rekonstruktion und Untermauerung von historischen Ereignissen. Sie können ebenso die Lücke zwischen nicht verschriftlichten Erlebnissen oder verloren gegangenen Dokumenten schließen. Interviews geben einen authentischen Blickwinkel auf subjektive Emotionen und Einstellungen. Dadurch kann eine in der Vergangenheit liegende Atmosphäre für RezipientInnen sehr viel lebendiger und realistischer dargestellt und vermittelt werden. Unter dem Begriff Oral History wird diese Herangehensweise zusammengefasst. Es ist ein von der Wissenschaft geprägter Ausdruck für die Ableitung einer Quelle aus einem mündlich geführten Gespräch. Im Vergleich zu schriftlichen Dokumenten sind diese jedoch nicht haptisch festgehalten, sondern nur im Gedächtnis abgespeichert und genau diese Erinnerungen leben mit dem Menschen, welcher in diesem Falle das Trägermedium ist, weiter. Mit der Zeit kann das Gedächtnis neu geordnet oder interpretiert werden. Eine Erinnerung ist somit durch erneutes Abrufen änderbar. „Ich merke das auch bei mir selber, man erinnert sich nach vielen Jahren an bestimmte Dinge einfach nicht präzise, bildet sich etwas ganz anderes ein, als eigentlich passiert ist. Das liegt in der Natur der Sache der Erinnerung“, meint Oliver Rathkolb und verweist somit auf die oftmals kritisierte Schwachstelle der Oral History. Es sei Subjektivität und die bewusste oder unbewusste Veränderbarkeit eines Gedächtnisses, die den wunden Punkt darstelle. Gleichzeitig sagt er jedoch: „Es wäre auch illusorisch zu glauben, dass Akten nicht subjektiv gefärbt sind, denn auch diese haben einen bestimmten Entstehungskontext.“ Die Kunst der Wissenschaft liege darin, diese Prägung anhand des Kontextes, mittels eines Quellenmix zu decodieren. Die Quellenkritik ist somit ein legitimes wissenschaftliches Verfahren und absolut notwendig. Doch gibt es ethische Grenzen für die Quellenkritik? „Es muss einem/r Historiker/in unbenommen sein, eine begründete Wertung abgeben zu dürfen, den sonst könnte man genauso einen Roboter hinstellen. Die Oral History-Ergebnisse als Quelle müssen genauso eine Quellenkritik vertragen. Dass es da sozusagen moralische und ethische Grundverhaltensweisen gibt, ist klar“, schlussfolgert Rathkolb, an dessen Institut immer wieder Projekte dieser Art durchgeführt werden.

Manipulation kann vielseitig sein

Externe Faktoren können ebenfalls Einfluss auf ein Oral History-Interview haben. In erster Linie ist hier der/die Interviewer/in gemeint, denn speziell durch Suggestivfragen können Antworten provoziert werden. Ernst Pohn ist es wichtig, dass InterviewerInnen schon im Vorgespräch sensibel agieren. So etwa sollen möglichst keine politischen Präferenzen im Vorhinein besprochen werden. InterviewerInnen sollten möglichst neutral sein und ihre Position nicht offen darlegen. „Die Leute brauchen ein gewisses Vertrauen zum/r Interviewer/in, es ist schon besser, wenn es in einer Umgebung ist, die die Leute kennen, also vielleicht zu Hause bei ihnen. Das ORF-Studio ist dann schon ein sehr künstliches Setting, das nicht ganz so ideal ist“, meint Pohn und hebt damit die Wichtigkeit der Interviewatmosphäre hervor. Dass sowohl Laien als auch Professionelle manipulieren können, zeigt das Beispiel des renommierten Historikers Michael Carter Ende der Neunziger. Rathkolb erzählt, dass eine Interviewsequenz von ihm sowohl durch die nicht publizierte Suggestivfrage, als auch durch die verkürzte Wiedergabe der Antwort bewusst in der Überlieferung verändert worden sei. Deswegen spiele auch die Kontextualisierung im Zuge eines TV-Beitrages eine wichtige Rolle. „Man muss all diese Faktoren wie die Zeit, den politischen, familiären und geografischen Hintergrund miterzählen und in der Gestaltung bedenken“, sagt Pohn im SUMO-Interview.

Die unterschiedlichen Zugänge

Oral History spiegelt ein sehr breites Feld wider und unterscheidet diverse Herangehensweisen. In den letzten Jahren werde vermehrt auf offene Gruppengespräche gesetzt, die durch Incentives, wie Schlüsselfotos, unterstützt werden. Der Gegenentwurf dazu sei das leitfadengestützte Einzelinterview, welches bewusst in eine Richtung gelenkt werde. Laut Rathkolb liege das professionelle Gespräch irgendwo zwischen einem Monolog und Detailfragen, die tiefer gehende Ebenen einer Geschichte freilegen.

Ein sehr häufig anzutreffender Zugang ist der journalistische, der ein ganz anderes Ziel verfolgt. „Für eine einzelne geplante Sendung würde ich anders interviewen, weil man da sehr viel gezielter fragt. Da weiß ich ganz genau, zu welchem Thema ich was fragen und was ich erfahren will, und wenn die Person dazu nichts zu sagen hat, dann interviewe ich diese auch vielleicht gar nicht. Das ist alles viel gezielter“, so Ernst Pohn. Doch nicht nur die Interviewführung unterscheide sich, sondern auch die Archivierung. Während in der Wissenschaft die Interviews ungeschnitten gespeichert werden, geschehe das beim ORF nicht immer. Dennoch ist Oliver Rathkolb der Meinung, dass auch diese Interviews, sollten sie ungeschnitten vorhanden sein, als Quelle dienen können – jedoch immer unter Berücksichtigung des Entstehungsprozesses. Diese grundsätzlichen Unterschiede drängen eine Frage immer mehr in den Vordergrund: Braucht es getrennte Begrifflichkeiten, um die Transparenz gegenüber den RezipientInnen zu gewährleisten? Oliver Rathkolb fällt diese Antwort sichtlich leicht: „Bei journalistischen eher nicht, ich glaube, da kommt keiner mit ‚Oral History’ daher. Jede journalistische Produktion hat ein klares Ziel und JournalistInnen müssen zu einem konkreten Thema arbeiten. Das kann dann nur zu einem bestimmten Teil eine Oral History-Quelle sein.”

Aber auch abseits vom Journalismus und der Wissenschaft können Zeitzeugengespräche geführt und auf Plattformen veröffentlicht werden. Ernst Pohn steht diesem Zugang jedoch skeptisch gegenüber: „Ich glaube, dass ein professioneller Hintergrund, wie ihn geschulte JournalistInnen des ORF haben, schon wichtig ist, um die Qualität zu gewährleisten. Ich bin da schon etwas skeptisch, aber ich verstehe, dass das Leute machen und das hat natürlich schon auch seine Berechtigung.”

Oral History“-Sonderprojekt

„Wir haben bei ORF III ab Sommer 2019 einen Zeitzeugenaufruf für den Zweiten Weltkrieg ausgestrahlt. Da haben sich sehr viele Leute gemeldet. Wir haben geglaubt, es melden sich 30-40, aber inzwischen sind es über 200“, erzählt Pohn. Aufgrund der hohen Nachfrage wurde dann eine Zusammenarbeit mit dem Ausbildungsfernsehen „c-tv“ der FH St. Pölten vereinbart. Dadurch bekommen sechs StudentInnen die Möglichkeit im Zuge eines dreimonatigen Praktikums, diese ZeitzeugInnen zu interviewen, um deren Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg festzuhalten. Ziel der Kooperation sei es, dass die StudentInnen nach einer kurzen Einschulungsphase möglichst selbstständig die Interviews durchführen und die Aufnahmen im ORF-Archiv gespeichert werden können. Diese begleitete Anfangsphase sei jedoch stark abhängig von der Vorerfahrung der Studierenden. Pohn rechnet mit ungefähr zwei bis drei Wochen, in denen RedakteurInnen die Studierenden zu Beginn bei den Interviews begleiten. In der Ausschreibung wird von den StudentInnen die Kenntnis im Umgang mit Kamera- und Tontechnik sowie der Bildgestaltung gefordert, eine Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und Erfahrung im redaktionellen Bereich sei nicht zwingend notwendig, aber gewünscht. Ernst Pohn: „Wir trauen uns durch dieses Projekt schon einiges, ich bin schon gespannt, wie es funktioniert mit den StudentInnen. Ich glaube, dass die technische Komponente die StudentInnen wahrscheinlich ganz gut können, gespannt bin ich jedoch schon, wie sie das Inhaltliche umsetzen.“ Oliver Rathkolb wirft einige Bedenken auf: „Ein wirklich professionelles Oral History-Interview ohne historische Kenntnis, also da bin ich skeptisch. Man muss sich schon vorbereiten, also den Rahmen muss man kennen, sonst geht das meistens daneben.“ Gleichzeitig betont er auch, dass mit dem inhaltlichen Fokus auf 1945 ein historischer Kontext schneller konstruiert werden kann, um somit den großen Abstand zwischen dem Alter des/der Interviewten und der InterviewerInnen zu minimieren. Der ORF führe dazu auch telefonische Vorgespräche durch, um die Gesprächsthemen schon im Vorhinein etwas besser abschätzen zu können. Jedoch seien solche Crashkurse immer mit Vorsicht zu genießen.

SUMO: „Geht Quantität vor Qualität bei dem Faktum der Sterblichkeit der Quelle?“

Ernst Pohn: „In erster Linie geht es schon darum, dass man diese Aufzeichnungen einmal hat, bevor es nicht mehr möglich ist, sie zu machen. Aber wir werden natürlich schon schauen, was das für Leute sind, woher die Leute und aus welchem politischen und familiären Hintergrund sie kommen. Da ist jetzt zum Beispiel einer, das war ein alter Nazi, den wird man nicht einfach so interviewen und ihn frei reden lassen, den muss man dann schon anders behandeln. “

Oliver Rathkolb: „Also ehrlich gesagt, nach wie vor Qualität, aber ein größeres Sample ist schon gut.“

Ein Grundbaustein, um diese Qualität zu gewährleisten ist sich während eines Interviews zurückzunehmen und nicht treibend zu fragen, aber gleichzeitig möglichst viel von der Persönlichkeit des/r Interviewten herauszufinden. Es brauche vor allem eine gute Vorbereitung und viel Kontextwissen. Oliver Rathkolb ist sich sicher: „Ich glaube nach wie vor, dass die guten Oral History-Interviews immer auch einen starken historischen Wissenshintergrund bei dem Interviewer bzw. der Interviewerin haben müssen, sonst ist es eine Quelle, die nicht wirklich viel offenlegt.“

Die zwei unterschiedlichen Sichtweisen der Wissenschaft und des Journalismus haben gezeigt, dass die Oral History nicht nur ein sehr spannendes Feld ist, sondern auch genug Spielraum für kontroverse Diskussionen bietet. Allen voran ist es ein wichtiges und nicht zu unterschätzendes Instrumentarium.

Von Magdalena Bauer