Kollaborativer Journalismus: „There is still a lot to explore”

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SUMO hat mit „SPIEGEL“-Journalistin Nicola Naber und Stefan Candea, Mitgründer der „European Investigative Collaborations“, über Organisation und Problemfelder von kollaborativ-journalistischen Projekten gesprochen.

 „Football Leaks“, „Panama Papers“, „Malta Files” – die ganz großen Schlagzeilen stammen heute nur noch selten aus einer einzelnen Feder. Vielmehr erleben Kooperationen im Journalismus eine Art Renaissance. Möglich macht’s die Digitalisierung mit ihren neuen Kommunikationsformen. Nötig macht’s die Digitalisierung ebenso: Vor allem angesichts großer Datensätze und kleiner werdender Redaktionen. Solch kollaborativ-investigative Projekte bringen dabei große Vorteile mit sich. Organisatorisch sind sie gleichzeitig selbst für die ganz Großen in der Nachrichtenbranche noch ein Lernprozess. Davon weiß etwa Nicola Naber zu berichten. Sie koordiniert seit 2017 für den deutschen „SPIEGEL“ das 2016 begonnene „Football Leaks“-Projekt mit den beteiligten Partnermedien in den „European Investigative Collaborations“ (EIC). Die EIC sind ein europäisches Recherchenetzwerk, in dem unter anderem „DER SPIEGEL“, der belgische „De Standaard“ oder der italienische „L’Espresso“ vertreten sind. Zentrale Figur in der Koordination und Weiterentwicklung des Workflows der EIC: Mitgründer Stefan Candea. SUMO hat mit Naber und Candea über Organisation und Problemfelder kollaborativ-journalistischer Projekte gesprochen.  

Kooperation im Journalismus: Kein neues Phänomen

Man stelle sich vor: Ein/e JournalistIn kopiert den Text eines Konkurrenzblattes und veröffentlicht ihn eins-zu-eins im eigenen Magazin. Was heute (mindestens) aus rechtlicher Perspektive bedenklich wäre, war im 18. Jahrhundert gängige Praxis zwischen Medienhäusern – und eine Urform von kollaborativem Journalismus, wie Lucas Graves und Magda Konieczna in der in den USA durchgeführten Studie „Journalistic Collaboration as Field Repair“ aus dem Jahr 2015 im „International Journal of Communication“ beschreiben. Kooperation zwischen JournalistInnen ist somit kein neues Phänomen. Im 20. Jahrhundert, so Graves und Konieczna weiter, nahm die kollegiale Zusammenarbeit allerdings den Sitz auf der Rückbank ein. Die Nachrichtenbranche war in ihrer wirtschaftlichen Blüte, dementsprechend niedrig war die Abhängigkeit verschiedener Medienunternehmen voneinander. Vielmehr ging es darum, die Konkurrenz mit der aktuelleren und exklusiveren Berichterstattung auszustechen. Aber selbst das hinderte JournalistInnen damals nicht daran, sich gegenseitig die Notizen zu ergänzen, wenn man bei der allfälligen Pressekonferenz mit dem Schreiben nicht mehr hinterherkam.

Exklusiv oder kooperativ?

Oben beschriebenes Problem verlangt dank moderner Technik wohl keine unternehmensübergreifenden Kooperationen mehr. Wohl aber Datensätze in der Größe von 1,9 Terrabyte. Ein solcher landete 2016 auf dem (virtuellen) Schreibtisch des „SPIEGEL“-Reporters Rafael Buschmann. Ok, but what next? Der „SPIEGEL“ fällte zunächst die Entscheidung, die „Football Leaks“-Dokumente mit den Mitgliedern der EIC zu teilen. Aber warum eigentlich? Immerhin hätte das Magazin auch exklusiv berichten können und damit die Lorbeeren für die Aufdeckung des größten Fußball-Skandals unserer Zeit alleine einheimsen.

SUMO: „Nach welchen Kriterien fällen Sie die Entscheidung, exklusiv zu berichten, oder Informationen zu teilen?“

Naber: „Das kommt auf die Daten an. Bei ‚Football Leaks‘ hat es eindeutig Sinn ergeben, diese zu teilen, weil das Fußballgeschäft international organisiert ist. Die Dokumente sind in unterschiedlichen Sprachen verfasst und die Größe des Datensatzes (der inzwischen auf 3,4 Terrabyte angewachsen ist) hat auch eine Rolle gespielt“.

Zudem waren die „Football Leaks“-Dokumente zum Teil strafrechtlich relevant. Der „SPIEGEL“ hätte sich bei der Recherche also – Stichwort „international organisierter Fußball“ – mit den rechtlichen Rahmenbedingungen zahlreicher Länder auseinandersetzen müssen.  Rechtliches Hintergrundwissen über einzelne Länder könnten die dort ansässigen Medienunternehmen am besten in das Projekt einbringen, so Naber. Auch aus dieser Perspektive macht eine Zusammenarbeit also Sinn.

Workflow und Kommunikation: „We fail a lot”

Die Mitglieder der EIC treffen sich mehrmals im Jahr persönlich, um sich auszutauschen und mögliche Rechercheprojekte vorzustellen. Die einzelnen Unternehmen können dann frei entscheiden, ob sie an einem neu vorgestellten Projekt mitarbeiten wollen. Sobald die JournalistInnen allerdings wieder in ihren heimischen Redaktionen sitzen, muss mit Hilfe digitaler Technologien kommuniziert und zusammengearbeitet werden.

Das ist gar nicht so einfach, wie es klingt. Konventionelle Kommunikationsmittel (zum Beispiel Email) fallen bei investigativen Projekten der Größenordnung „Football Leaks“ flach – zu groß sind die Sicherheitsbedenken hinsichtlich der Gefahr, dass jemand mitliest. Sich einfach der Software eines der Partner zu bedienen, ist aus lizenzrechtlichen Gründen ebenfalls keine Option.

Aus diesem Grund haben die Mitglieder der EIC ihre eigenen Tools entwickelt, um Kommunikation und Workflow zu koordinieren. Herausgekommen ist bei diesem Entwicklungsprozess ein Projekt, das unter dem Namen „Liquid Investigations“ auch als Open Source zum Download verfügbar ist. Dabei handelt es sich um Software, die Stefan Candea als „bundle of communication tools“ bezeichnet: „With it, we can share documents and make annotations for example“. Ein Mix aus „Office365“ und Social Media für JournalistInnen also – nur eben professioneller und sicherer.  Um die Masse der „Football-Leaks“-Daten strukturiert zu durchforsten, wurde zudem eine Art Suchmaschine („Hoover“) entwickelt.

Trotz all der Technik sind die Arbeitsabläufe der EIC jedoch noch alles andere als perfekt. „We fail all the time“, meint Candea in diesem Zusammenhang sogar. Schon während eines Projekts „haben wir jeden Monat neue Ideen, wie wir die Informationen für die Partner besser aufbereiten können“, erzählt auch Naber. Deswegen würden die Workflows nach jedem Projekt in einer Art „Post-Mortem-Analyse“ (Candea) bewertet und neu weiterentwickelt werden.

Kollaborations-Killer Konkurrenz?

Kurzer Sprung jenseits technischer Aspekte und Workflow-Optimierung: Auch während Kooperationen stehen die beteiligten Medienunternehmen in einem knallharten ökonomischen Wettbewerb miteinander. Das kann doch nicht zusammengehen – so zumindest die These, die diesem Artikel vorrausgegangen ist. Naber widerspricht jedoch: „Die Mitglieder kommen alle aus verschiedenen Ländern: Ich bin mir nicht sicher, ob wir da überhaupt in Konkurrenz miteinander stehen. Bei ‚Football Leaks‘ haben wir uns sogar eher ergänzt: Wir konzentrieren uns auf ‚deutsche‘ Themen, die Partner aus Frankreich auf PSG, die aus den Niederlanden auf AJAX (Anm.: gemeint sind die Fußballclubs)“.

Also alles heile Welt? Stefan Candea von der EIC stimmt Naber zwar grundsätzlich zu („If you are a german newspaper, you don’t consider the French a competitor”), räumt aber ein, dass die „friedliche“ Zusammenarbeit auch der vergleichsweise geringen Anzahl der Mitglieder in den EIC geschuldet sei: „As a general rule i think you can say: The bigger the networks are, the more limitations they have. It’s therfore better to have smaller networks – otherwise you might run in to competition issues.”

Und spätestens, wenn es um die Frage geht, wer wann publizieren darf, spielen auch bei den EIC Eitelkeiten eine Rolle. Naber berichtet etwa von Diskussionen mit der englischen „Sunday Times“ rund um einen Veröffentlichungstermin. „Viele Partner wollen natürlich gerne exklusiv publizieren“, so die Journalistin. Das Problem: „DER SPIEGEL“ erscheint samstags, die „Sunday Times“ einen Tag später. Einer muss also zurückstecken. „Da kommt es dann durchaus zu Diskussionen“, erzählt Naber und weiter: „Einfluss auf die endgültige Entscheidung haben dann Kriterien wie ‚Wer hat am meisten zur Recherche beigetragen?‘, oder ‚Für welches Land hat der Artikel die größte Relevanz?‘“. Im Zweifel könne der Initiator des Projekts – also im Fall von „Football-Leaks“ der „SPIEGEL“ – auch ein Machtwort sprechen.

Kollaborationen: Zukunft des investigativen Journalismus?

Aufwendige Koordination, Workflows, die noch nicht so flüssig sind, wie sie klingen und teils unbefriedigende IT-Lösungen – vieles muss sich bei kollaborativen Projekten im Journalismus 3.0 noch verbessern. Trotz aller Hindernisse schreiben Candea und Naber Kooperationen bei großen, investigativen Recherchen in Zukunft aber eine immer größere Rolle zu. „Allein schon wegen des Kostendrucks, den viele Zeitungen verspüren“, sei es nicht mehr möglich, Projekte wie „Football Leaks“ allein zu stemmen, so etwa die „SPIEGEL“-Journalistin. In diesem Sinne sind sich Naber und Candea bei einer Sache einig: Medienunternehmen müssen bei der Arbeit in Recherchenetzwerken wie der EIC noch viel dazulernen. Oder, in den Worten von Candea: „There is still a lot to explore.”

Von Tobias Kachelmeier