Keine Angst – nicht hier. SUMO untersucht bloß das TV-Genre: Verfolgungsjagden mit Hilfe des Helikopters. Hubschrauberberichterstattung ist in den USA üblich, in Europa nicht. Catherine Chandler, USA-gebürtige interkulturelle Sprach- und Kulturpädagogin, diskutiert in SUMO darüber.
US-amerikanische RezipientInnen unterscheiden sich vielfach von den europäischen, nicht nur in der Dauer der Fernsehnutzung: Laut Amy Watson und „TV Key Facts 2017“ kommen Menschen in den Vereinigten Staaten auf eine ungefähre Fernsehdauer von 4 Stunden täglich. Ein/e durchschnittliche/r österreichische/r Fernseher/in verbringt 2,8 Stunden vor dem TV-Gerät. Auch bei den Präferenzen bestehen Divergenzen. Chandler dazu: „EuropäerInnen besitzen zwar auch eine gewisse Schaulust, dennoch ist diese in Amerika wesentlich stärker ausgeprägt. Verfolgungsjagden, also Live-Dramen mit unklarem Ende sind sehr beliebt“. Manuela Pauker (W&V, 2018) erforschte, dass es in Deutschland eher Filme mit Spaßfaktor sind, die beim Publikum im Vordergrund stehen, also Komödien, Sitcoms oder Cartoons. Action und Horror befinden sich auf dem zweiten Platz der Beliebtheitsskala, aber mit eindeutigem Abstand. All diese Fakten bilden eine gewisse Basis für die Entstehung von – manchmal sogar bizarren – Realityshows, die man auch als „kulturelles Phänomen“ wahrnehmen kann, wie es Dan Neil, Automobilkolumnist von „The Wall Street Journal“ gegenüber der BBC (2015) nennt: „You can’t imagine how popular police chases are in the United States. They even have twitter feeds just for these. For instance, one of them is @policealive which has more than 27 000 followers. They also send you alerts when something is currently happening“.
Ablauf einer Verfolgungsjagd-Sendung
Fernsehsender, die Verfolgungsjagden anbieten sind mit Funkmeldeempfängern, wie z.B. einem Pager ausgerüstet. Diese, aber auch andere, wie etwa Funkgeräte mit der jeweiligen Polizeifrequenz dienen zur Verfolgung der polizeilichen Handlungen. Falls der Sender an einer Verfolgungsjagd interessiert ist, wird ein Hubschrauber desselben alarmiert. Die Übertragung einer solchen sei häufig von Kommentaren eines Sprechers bzw. einer Sprecherin begleitet, sagt Chandler. James Morgan von BBC konstatierte bereits 2015, dass sich der Trend, eine Verfolgungsjagd zu rezipieren, kontinuierlich verstärke, und zwar so, dass dies nicht mehr nur eine Domäne der lokalen Sender sei, sondern auch der nationalen. Daher kommt es hin und wieder zur Unterbrechung einer Sendung bzw. zu einem Programmwechsel, um die Verfolgungsjagd ausstrahlen zu können.
Präzedenz aller Fälle und Gründe
Die Popularität der „police chases“ in den USA eruptierte durch O. J. Simpson im Jahr 1994 – die bekannteste Verfolgungsjagd Amerikas. Der Fernsehsender „FOX 10 Phoenix“ berichtete, dass sie ungefähr 95 Millionen ZuschauerInnen hatte, die das Geschehen über neun News-Helikopter verfolgen konnten. „It had a higher audience than the year’s superbowl“, fügt Chandler hinzu. O. J. Simpson war ein ehemaliger Football-Star und Schauspieler, der wegen Mordes an seiner Frau und an einem Kellner angeklagt worden war. Der Haftbefehl wurde am 17. Juni 1994 beantragt. Simpson stellte sich nicht, sondern floh und wurde dabei von dem News-Hubschrauber der Journalistin Zoey Tur entdeckt. Diese verständigte sogleich die Polizei. Bei der Verfolgungsjagd wurden keine polizeilichen Initiativen eingeleitet. Simpson fuhr sogar langsam und drohte dabei mit Selbstmord. Er stellte sich jedoch später und wurde von der Polizei festgenommen. „The case is so well known that if you just say ‘white Ford Bronco’ (Anm.: Die Automarke des Fahrzeuges, in dem er floh) everyone will know what you are talking about.”
Das alles weckt zwar das Interesse bei ZuschauerInnen, erklärt aber noch nicht den schnellen Einsatz von mehr als neun TV-Sendern mittels Hubschrauber. Laut Chandler und „Süddeutsche Zeitung“ seien daran überwiegend die häufig vorkommenden Staus, die vor allem für Kalifornien und vorwiegend für Los Angeles typisch seien schuld. In den Vereinigten Staaten gebe es deutlich mehr LokalberichterstatterInnen als in Europa. Diese Lokalsender seien dann bei AmerikanerInnen für ihre Verkehrsberichterstattung bekannt. Da sich aber in den USA sehr lange Autobahnabschnitte befinden, sind diese kleinen Lokalsender quasi gezwungen, einen Hubschrauber zu besitzen, mit dem sie ihr ganzes Gebiet erfassen können.
Frage der Ethik
Auf die SUMO-Frage, ob es nicht unethisch für die Sender sei, wenn sie sich bei solchen Übertragungen auch sensible Bilder beschaffen, antwortet Chandler mit der Gegenfrage: „What then should American channels broadcast, if this is what American consumers want to watch?“ Dies sei natürliche Schaulust bzw. menschliches Bedürfnis. „The local news agencies also focus on this thing“, fügt sie hinzu. Sie tendieren zum Boulevardjournalismus, also zur Ausgabe „sensationeller Nachrichten“, damit sie mit diesen ihre ganze Sendezeit abdecken können. „The channels try to protect their audiences from generally inappropriate pictures by often broadcasting with a small time delay“. Al Tompkins vom Poynter Institute äußerte sich gegenüber der BBC (2015), dass dies trotz aller Sicherheitsvorkehrungen nicht zuverlässig verhindert werden könne. Er erinnerte dabei an den tragischen Unglücksfall, als „Fox News“ unabsichtlich sendete, wie ein Mann nach einer Verfolgungsjagd durch die Polizei erschossen wurde. Diese Szene in der Wüste von Arizona wurde zwar mit einer Fünf-Sekunden-Verspätung übertragen, jedoch scheiterte der Versuch, diese sensible Szene auszuschneiden. Laut dem „Bureau of Justice Statistics“ (2017) sei dies kein Einzelfall. 2006 und 2007 etwa seien mehr als 400 Menschen in den Vereinigten Staaten im Rahmen einer Verfolgungsjagd ums Leben gekommen.
Klassisch amerikanisch?
Als ein Fazit der Verankerung der Verfolgungsjagd in der amerikanischen Kultur bietet sich ein Zitat von Professor Geoffrey Alpert gegenüber der BBC (2015) an: „Dies verfolgt uns seit den Zeiten des Wilden Westens – ein Kerl raubt eine Bank aus und flüchtet auf einem Pferd. Und der Sheriff reitet auf seinem Pferd hinterher“.
Von Ondrej Svatos