Normalgewicht und trotzdem unglücklich. Das Selbstbild vieler Frauen ist geschädigt durch Beiträge in Sozialen Medien.
Magersucht ist eine Erkrankung, die im 19. Jahrhundert in westlichen Gesellschaften auftauchte, eine Erkrankung mit vielen psychosozialen Folgen und der höchsten Sterblichkeit aller psychischen Erkrankungen. Ab jenem Zeitraum wurde ein Idealbild der Frau geschaffen, das Schlankheit und perfekte Maße erfordert. Das Wissen über die negativen Folgen des Schlankheitskultes war gering, Medien forcierten stattdessen das Ideal. Ab den 1950er-Jahren wurde es via Mode, Kultur, Sport und insbesondere Werbung fast zu einem Muss, das Idole vorzeigten. Heute ist dieser Perfektionsvergleich quasi demokratisiert, in bildbasierten Sozialen Medien beweist man sich im Minutentakt die Unabdingbarkeit des perfekten Körpers. Ein Ziel, das krankmachen kann.
Gründe für Essstörungen
Essstörungen sind psychosomatische Erkrankungen, darunter fallen Magersucht (Anorexie), Ess-Brechsucht (Bulimie) oder Binge-Eating (Fresssucht). Wie bei jedem Krankheitsbild kann es zu Abweichungen kommen, so gibt es neben den klassischen Dreien noch weitere Formen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen können. Durch das gestörte Essverhalten belasten erkrankte Menschen auch FreundInnen und Familie. Nicht zuletzt sind einige der Ursachen im familiären Bereich oder in komplexen individuellen psychischen Ereignissen zu finden. Vor diesen Hintergründen kommen Gefühle der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper auf, oft gehen sie in Scham über. Vermehrt löst der gesellschaftliche Druck – neue Normen oder Verhaltensvorgaben – psychosomatische Krankheiten aus. Spätestens ab diesem Zeitpunkt treten die Medien ins Spiel, sie helfen diesen Druck aufrechtzuhalten. In Sozialen Medien stellen sich Menschen in Dauerpräsenz selbst dar und tauschen sich tagtäglich über das Verhalten und Aussehen anderer aus. Dem Druck schön und schlank und beliebt zu sein, halten nur wenige stand. „Schlanksein wird zum positiven Attribut für Attraktivität, Anerkennung und Glück“, meint Dr. Christof Argeny, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut. Es würden Bilder von Frauen und Männer kreiert, die nie erreicht werden könnten, unterschwellig aber gleichwohl effektiv seien. Besonders empfänglich für solche Botschaften seien Mädchen in einer kritischen Entwicklungsphase, wie der Pubertät. Jede/r einzelne sei stetig auf der Suche nach einem perfekten „Ich“, Soziale Medien bieten hierzu Orientierung und Anleitungen.
Fakten zur Körperunzufriedenheit
Die „Dr.-Sommer-Studie“ 2009 von „Bravo“ belegte, dass die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zunahm. Mädchen in einem Alter von 16 und 17 Jahren fühlten sich 2006 noch zu 69% in ihrem eigenen Körper wohl, 2009 – also noch vor „Instagram“ & Co. – ging die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper auf 48% zurück. Die Wünsche der unzufriedenen Mädchen: „Schlank sein“, „flacher Bauch“ sowie Optimierung von Gesicht und Beinen. 2017 konstatierte die „#StatusOfMind“-Studie der britischen Royal Society for Public Health, dass „Instagram“ unter den Sozialen Medien den größten Einfluss auf die Psyche von Mädchen und Jungen hat. Hier gaben bereits neun von zehn (!) befragten Jugendlichen ab 14 Jahren an, mit ihrem Körper unglücklich zu sein – 70% wünschten sich gar einen kosmetischen-chirurgischen Eingriff. In einer Studie der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2012, die in 39 Ländern mit Mädchen und Jungen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren durchgeführt wurde, gab die Hälfte der Mädchen und ein Drittel der Jungen an, zu „dick“ zu sein, obwohl bei vielen der Body-Mass-Index im Normalbereich lag. Und welche Erkrankungen können daraus resultieren? Die Medienwissenschaftlerin Maya Götz befragte im Jahr 2015 in Deutschland 238 Mädchen und zehn Jungen, die an einer Essstörung erkrankt waren: 85% litten unter Magersucht, gefolgt von Bulimie und Binge-Eating. 15% waren in Behandlung wegen einer Kombination aus Anorexie und Bulimie.
Medial bedingte Abwärtsspiralen
„Das Hauptproblem ist, das ein Verständnis von normal und natürlich vermittelt wird, das aber eigentlich abnormal und unnatürlich ist“, berichtet Argeny. Durch das Auftauchen des „Topmodel“-Formats im Fernsehen und Sozialen Medien fühlten sich immer mehr Mädchen unwohl mit ihrem Gewicht. Die Medienlandschaft weise kaum noch eine Vielfalt an Frauenbildern auf; Schlank und Schön seien die Hauptkriterien in dieser Branche. „Es ist ein sehr hoher Druck, sich natürlich, spontan und schlank zu präsentieren“, erklärt Argeny. Obwohl ein Großteil der Mädchen Normalgewicht aufweisen, lasse sich dennoch ein Hang zum Untergewicht verzeichnen. Burschen beeinflusst dieser Hype um das Gewicht weniger. Mit zunehmendem Alter steige die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Besonders Mädchen hätten das Verlangen, „Influencerinnen“ mit ihrem nahezu makellosen und gleichwohl verzerrenden Bild nachzuahmen. Das Frauenbild werde generell stark medialisiert und führe zu Frustration und gestörter Selbstwahrnehmung. Man nehme immer mehr die Defizite des eigenen Körpers wahr und setze sich somit den Druck aus, dem „Ideal“ zu entsprechen. Dies seien Auslöser für Diäten und exzessiven Sport. Es beginne ganz harmlos, man fängt eine Diät an, dazu kommt regelmäßiger Sport. Kurz darauf resultieren die ersten Fortschritte. Mit Verlauf des Prozesses wird der Selbstwert immer mehr durch die erfolgreiche Gewichtsabnahme gestärkt, was gewichtsmäßig zu einer Abwärtsspirale führt. Da die seelischen Zustände nicht beherrscht und reguliert werden können, wird ersatzweise die Nahrungsaufnahme kontrolliert. Ängstlich und höchst penibel wird das Essen kontrolliert, wird gewogen und Kalorien gezählt und der Weg führt unaufhaltbar in die Magersucht. Familie und FreundInnen erkennen die Essstörung oft zu spät. Selbst falle es einer Betroffenen kaum auf, denn untergewichtige Mädchen empfänden sich trotzdem als dick. Gestörte Selbstwahrnehmung und Essstörung gehen Hand in Hand, für junge Mädchen sei sie deswegen eine der tödlichsten Krankheiten.
Sind Essstörungen und gestörte Selbstwahrnehmung normal in der Gesellschaft geworden? „Es wird gefördert, wenn ständig unerreichbare Ideale präsentiert werden, sodass man den eigenen Körper dann immer mit Frustration erleben muss“, antwortet der Facharzt und Therapeut.
Hilfe
Eltern und FreundInnen glauben oft zu helfen mit Aussagen wie „Du bist jetzt aber schon dünn“, „Iss mal wieder mehr“, „Muss so viel Sport wirklich sein“. Diese Worte würden vielfach nur als Ansporn für das Durchhaltevermögen anerkannt. Dazu käme, dass junge Mädchen sich stark nach Autonomie sehnen und sich selbst helfen wollen. Irgendwann sei aber keine Zeit mehr für Selbsthilfe. Wie also hilft man richtig?
„Wichtig ist es, die Wahrnehmung so zu schärfen, dass man seine Stärken und seine Persönlichkeit differenziert wahrnimmt“, erklärt Argeny. Problem für das häufigere Auftreten der psychosomatischen Krankheit sind die eingeschränkten Darstellungen in Sozialen Medien. Vielmehr sollte die Familie helfen, die Persönlichkeit zu unterstützen, um ihre Stärken und Vorteile zu erkennen, damit deren Fokus nicht auf den Defiziten bleibt. Es sei wichtig, nicht an Einzelmerkmalen hängen zu bleiben, sondern sich in seiner Vielfalt wahrzunehmen und somit wegzukommen von den medial vermittelten Idealbildern. Erläuterungen von Fachkräften fänden oft keinen Anklang bei ihnen, vielmehr sollten in der Öffentlichkeit stehende Betroffene selbst darüber erzählen, was ob Unsicherheit und Scham nur selten passiere. „Idealerweise ermutigen einen die FreundInnen und zeigen auf, dass es Beratungsstellen gibt und man Hilfe in Anspruch nehmen soll. Bei dieser Krankheit haben viele junge Mädchen ein hohes Kontrollbedürfnis und denken, sie müssen das selbst in den Griff kriegen und suchen erst dann einen Arzt auf, wenn sie schon körperliche Probleme haben“, konstatiert Dr. Argeny.
Und er appelliert auch an die öffentliche Meinung bildender Institutionen: „Es muss mehr darüber in den Medien berichtet werden, mehr Aufklärung in Schulen stattfinden, mehr Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden.“ Denn vermeintliche Makel sind kein Grund, sich unwohl im Körper zu fühlen, sondern die individuellen „Spezialeffekte“, die einen einzigartig machen.
Von Sabrina Bichler
sowhat. Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen
origo Gesundheitszentren GmbH
Ambulante kassenfinanzierte Therapieprogramme für Menschen mit Essstörungen von bis zu drei Jahren, für Kinder ab 10 Jahren und Erwachsene. Ein multiprofessionelles Team bestehend aus Ärzten, Psychotherapeuten, klinischen Psychologen sowie Ernährungsexperten arbeitet dafür eng zusammen. Standorte in Wien (beim Westbahnhof), St. Pölten und Mödling. Tel. 01 / 406 57 17 – 0, www.sowhat.at