Das Budget ist klein, die Kultur groß – und der Vorhang bleibt immer öfters zu. Die freie Theaterszene bildet neben den großen Institutionen wie dem Burgtheater eine zweite Säule in der österreichischen Theaterlandschaft.
Doch nicht nur die Covid-19-Pandemie, sondern auch mediale Angebote konkurrieren zunehmend um die Aufmerksamkeit von Kulturbegeisterten. Wie halten kleine und mittlere Theaterbühnen dem zweiseitigen Konkurrenzdruck stand und wie gehen sie mit den Herausforderungen der Covid-19-Pandemie um? SUMO sprach darüber mit zwei Theaterleiter*innen und Schauspieler*innen: Ernst Kurt Weigel vom Off Theater Wien und Michaela Ehrenstein von der Freien Bühne Wieden.
November 2021. Während das Theater im Vormonat gerade erst wieder etwas Fahrt aufnehmen konnte, kam es im November vor dem nächsten bundesweiten Lockdown zu einem schlitternden Halt – wobei manche mehr rutschten und manche weniger. Je nach Beschaffenheit und Geschäftsmodell variierte die Zufriedenheit von Theaterhäusern proportional zur Saalauslastung. Beides befand sich unterm Strich jedoch auf dem Abwärtstrend. Flächendeckend wurden Ticketeinbrüche verzeichnet, selbst Premieren im Burgtheater waren nicht voll besetzt. Weist das Burgtheater, das größte deutschsprachige Sprechtheater, eine durchschnittliche Gesamtauslastung von rund 66% auf, so stellt man sich die Frage: Wie geht es dann den freien Theatern? Und wie gehen diese damit um, wenn coronabedingt wieder einmal der Vorhang zubleibt?
Was ist „Freies Theater“?
Alternativ, trashig* und voller „Nebenjobber*innen“ mit unerfüllten Träumen von der großen Bühne: Eigenschaften, die nicht selten mit der freien, auch Off- oder Independent-Theaterszene in Verbindung gebracht werden. Theaterhäuser oder -ensembles, die Programm abseits des Mainstreams produzieren, häufig kein festes Ensemble haben und zum großen Teil staatlich subventioniert sind. Ja und Nein. Was ist ein Vorurteil, was entspricht der Wahrheit?
Jenseits der großen Institutionen bilden freie Theater die zweite Säule in der professionellen Theaterlandschaft Österreichs. Die Szene vereint viele unterschiedliche Ästhetiken und Theatersparten. Gleichzeitig gibt es einige wesentliche Merkmale, die Akteur*innen der freien Szene gemeinsam haben. Off-Theater bieten einen Ort, an dem darstellende Kunst abseits von ästhetischen und inhaltlichen Anforderungen und dem kommerziellen Druck des Mainstream-Theaters eine Bühne finden kann. Unmittelbar im Zentrum steht zumeist die Auseinandersetzung mit der Kunst auf sämtlichen Ebenen, angetrieben von gesellschaftlichen Themen. Nicht selten werden Themen kollektiv im Ensemble erarbeitet, die Hierarchien sind flach und die Ausrichtung ist nicht kommerziell. Damit einhergehend wird auch ein Teil der freien Szene durch staatliche Mittel gefördert.
Viele Kunst- und Theaterschaffende setzen den Schritt ins freie Theater bewusst. Die selbstständigere Arbeitsweise bietet entsprechende Möglichkeiten, selbstbestimmter und autark zu arbeiten. Zumeist arbeiten sie als Teil eines Ensembles, das über eigene Räumlichkeiten verfügt oder ziehen als künstlerische Nomaden von Bühne zu Bühne. Österreich weist eine große Vielfalt an Off-Theatern auf. Unterschiede in Stil, Programm und Inszenierung prägen diese Vielfalt – und doch müssen sich alle, zusammen mit der restlichen Kultur des Landes seit März 2020 ein und derselben Herausforderung stellen. Wie gelingt den kleinen Bühnen die Pandemiebekämpfung?
Schockstarre vs. Learning by Doing
Reaktion statt Aktion, lautet hierbei die Devise für viele, vor allem für große Häuser. Mangelnde Planbarkeit macht deutlich zu schaffen. „Was ist ein Plan?“, fragte sich die Intendantin des Landestheaters Vorarlberg Stephanie Gräve in einem ORF-Interview sarkastisch. „Klar, wir haben Pläne und dann machen wir wieder Pläne und wieder Pläne. Aber was es natürlich braucht, ist größtmögliche Flexibilität.“
Genau in dieser Flexibilität liegt der große Vorteil der kleinen und mittleren** Bühnen gegenüber den großen. „Man traut sich halt mehr“, so Schauspieler und Leiter des Off Theater Wien, Ernst Kurt Weigel. „Auf ihrer großen Kohle sind sie gesessen, Schockstarre. Was sollen wir jetzt machen?“, kommentiert er weiter das Handeln großer Bühnen während des Lockdowns, oder das Fehlen dieses. Die Flexibilität ermöglichte es auch vor allem dem Wiener Off Theater, schnell auf die Situation zu reagieren und Online-Lösungen zu entwickeln. Angesichts fehlender technischer Kapazitäten und mangelnden Know-Hows konnte zwar zunächst noch kein absolut reibungsloser Ablauf eines Livestreamings via Smartphone garantiert werden. Doch selbst über aufpoppende „Clubhouse“-Nachrichten, die den Livestream zusammenbrechen ließen konnte gelacht werden, bevor der Ablauf durch eine zunehmende Gewöhnung und verfeinerte technischen Lösungen professionalisiert wurde.
Flexibilität und Originalität als gemeinsamer Nenner
Sowohl Weigel als auch Michaela Ehrenstein, Leiterin der Freien Bühne Wieden, zufolge sei diese Flexibilität in sämtlichen Strukturen des freien Theaters verankert. Auch in der Programmierung werde stark davon profitiert. Programmpläne werden je nach Theater nur ein bis zwei Jahre im Voraus gemacht, können leicht umgestoßen und binnen kürzester Zeit komplett neu ausgelegt werden – somit kann nicht nur sehr beweglich auf coronabedingte Änderungen eingegangen werden, sondern vor allem auch auf gesellschaftliche. Stücke können besser auf das Zeitgeschehen angepasst werden und neue Ideen viel schneller eingearbeitet und wieder adaptiert werden. Auch die Aufgliederung in Departments ist bei Weitem nicht so groß, wie es in den großen Häusern der Fall ist. So werden Stücke im Falle des Off Theaters Wien gemeinsam entwickelt und Entscheidungen demokratisch im Team getroffen. Dabei wird stets darauf geachtet, Originalität zu wahren. Für die Klassikerpflege sind die großen Häuser zuständig sind, das freie Theater muss neue Zugänge finden. Das ist der allgemeine Konsens in der Branche. „Du kannst keinen ‚Hamlet‘ machen, dafür gibt es das Burgtheater. In der freien Szene muss man etwas anderes machen, so Weigel. Gleichzeitig machen sich auch große Bühnen immer mehr Impulse aus der Off-Szene zu eigen, was es schwierig macht, eigene neue Formen – eine „Off-Identität“ zu entwickeln – eine ganz eigene Problematik.
Aus Alt mach Neu, aus International mach Lokal
Aus diesen beiden Faktoren ergibt sich ein großer Handlungsspielraum für kleine und mittlere Bühnen. Nicht nur sind diese flexibler und trauen sich mehr, sondern haben auch die Möglichkeit sich Mitteln zu bedienen, die in den starren Konstrukten großer Häuser keinen Zugang finden. „Es können Impulse gesetzt werden, die in behäbigeren Betrieben nicht möglich sind“, beschreibt Ehrenstein die Dynamik kleiner Theaterbetriebe. So baue die Freie Bühne Wieden auf eine Kombination aus neuen Texten, die im Rahmen von Uraufführungen mit traditionellen Theaterpraktiken umgesetzt werden und das Off Theater Wien auf eine Vermischung von lokalen und internationalen Stoffen, die sich vor allem anhand der Sprache auszeichnen und sich aneinander annähern. Grenzen verwischen und es kommt zunehmend zu Vermischungen von alt und neu, traditionell und innovativ, lokal und international.
Und das Ergebnis, unter dem Strich?
Natürlich ist ein wesentlicher Befähiger dieses Handlungsspielraumes auch das staatliche Fördergerüst, auf das sich viele freie Bühnen stützen. Es macht ein Stück weit unabhängig von Eintrittserlösen – und zugleich stark abhängig von der Gunst der Fördergeber. Und diese möchten natürlich unter dem Strich ein Ergebnis sehen. Dass die Förderung bei Nichterbringung dessen dann auch schnell wieder weg ist, zeigt die Praxis. Erst im Jänner 2021 wurde dem Off-Theater der Stadt Salzburg die gesamte Jahresförderung gestrichen – wegen unzureichender innovativer Aspekte, heißt es in der Begründung. Wie lassen sich also Förderverpflichtungen mit dem Anspruch an Flexibilität und Originalität der freien Theater vereinen? Für Weigel stelle dies ein Kontrast in sich dar. Dass „unterm Strich“ für Kurator*innen aus eingereichten Stückkonzepten ein Ergebnis herausspringen soll, stehe mit seinem grundlegenden Verständnis von der Aufgabe seines Theaterschaffens im Konflikt: nämlich Fragen aufzuwerfen und nicht, sie zu beantworten. Das Ergebnis eines jeden Theaterstücks sei somit für jede/n Zusehende/n individuell interpretierbar. Aus dieser hohen Subjektivität und Unberechenbarkeit ergibt sich auch die Schwierigkeit einer Förderung im freien Theater.
Theater zwischen Nullen und Einsen
Doch wie geht es in Zukunft weiter? Werden Medien immer mehr Einzug ins Theater finden – und umgekehrt? Jüngste Entwicklungen sprechen dafür. Nur eine Woche vor dem erneuten landesweiten Lockdown im November 2021 ließ man im Rahmen der Nestroy-Gala die ungewöhnlichste Spielzeit der jüngeren Theatergeschichte Revue passieren – und zeichnete digitale Formate mit einem Corona-Spezialpreis aus. Auch im Programm des Off-Theaters Wien werden Nullen und Einsen in Zukunft weiterhin wesentliche Rollen spielen. Das Feedback auf bisherige digitale Lösungen fiel sehr positiv aus: Man erreichte Publikum auf der ganzen Welt und entdeckte neue Möglichkeiten, mit Zusehenden durch die Kamera zu interagieren. Darin, dass dabei digitale Formate das Live-Erlebnis zunehmend überflüssiger machen werden, sieht Weigel keine Gefahr. „Solange es Menschen gibt, gibt es Theater“. Genauso wenig, wie es sich Cineast*innen in Zukunft nicht nehmen lassen werden, ins Kino zu gehen, werden Theaterliebhaber*innen auch wieder ins Theater zurückkehren. Zwar ist die Ablenkung durch alternative Entertainmentformen groß, doch so ist es auch der Drang, über sich selbst zu lernen und sich Gedanken darüber zu machen, welche Aufgabe ein/e jede/r in der Welt hat. Und das sieht Weigel als zentralen Aspekt im Theater. „Im Mittelpunkt steht der Mensch im Theater für mich. Der Mensch, der leidet, der denkt, der liebt, der stirbt und lebt und Leben schenkt, der verzweifelt – das ist für mich interessant. Und der wird immer interessant sein und da brauche ich eigentlich gar nichts dazu, außer einen guten Schauspieler oder eine gute Schauspielerin, der oder die mir etwas über mich beibringen kann.
von Sarah Schöllhammer
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