Erhöhte Toleranz, Gebrauch im Übermaß, soziale und berufliche Einschränkungen: drei der Kriterien für Suchteinstufung. Wie aber ist das beim Internet, bei dem eine Toleranzgrenze im klassischen Sinn nicht existiert?
Eine Definition ausschließlich aufgrund der Nutzungsdauer ist wenig sinnvoll, angesichts der Tatsache, dass laut einer Studie der SPECTRA Marktforschungsgesellschaft der/die durchschnittliche Österreicher/in das Internet täglich 108 Minuten nutzt. Definitionsversuche zum Themenbereich Internetsucht sowie die Sinnhaftigkeit des Begriffs an sich seien generell umstritten, stellt Julian Strizek fest. „Abhängigkeit ist an und für sich nichts Schlechtes. Abhängig sind wir von Vielem: Essen, Trinken, und bei Kälte von einem warmen Gewand und einer Heizung. Sucht jedoch ist eine Abhängigkeit, die große Probleme macht. Und zwar für die Person selbst und oder für die Umgebung. Das ist für mich eine relativ sinnvolle Definition“, erläutert Alfred Uhl. Es geht vor allem darum eine Entscheidung zu treffen, wo die Grenzen gezogen werden.
Laut dem behandelnden Arzt Herr Dr. Roland Mader sind mehrere Stunden online zu verbringen zwar ein auffälliges Merkmal, doch Zeit allein ist nicht ausschließlich ein Kriterium. Indizien dafür sind viel mehr das Vernachlässigen der schulischen oder beruflichen Laufbahn, Abfall schulischer Leistungen, der Rückzug aus dem Freundeskreis oder auch die starke Reduzierung von Hobbies. Ein ausgeprägtes Spezifikum kann auch der Kontrollverlust sein. Die betroffene Person hat kein Zeitgefühl mehr, wie lang das Internet schon verwendet wurde, bzw. auch wenn das Bewusstsein darüber gegeben ist, kann die Rezeption nicht mehr kontrolliert und eingeschränkt werden. Die Suchterkrankung resultiert oftmals in Unruhe und Angstzuständen, sollte dem/der Betroffenen kein Zugang zum Internet gewährt sein.
Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?
Oder in dem Fall: Was verursacht das Problem, eine psychische Belastung im Hintergrund oder die Internetsucht selbst?
Grundsätzlich sei es so, dass ein Großteil der Probleme im Zusammenhang mit Süchten – und hier sind stoffgebundene sowie stoffungebundene gemeint – deshalb entstehen, weil es im Hintergrund andere Grundprobleme gibt. Psychische Erkrankungen können Süchte verursachen und diese verstärken. „Es gibt kein eindeutiges Schema, welche Gruppe in Hinblick auf eine problematische Internetnutzung besonders gefährdet ist, aber doch sind es meistens Menschen, die auch andere psychische Auffälligkeiten aufweisen“, stellt Strizek fest.
Es folgt laut Uhl eine Selbstbehandlung oder ein Entkommen „gegen Depression, gegen Fadesse, gegen ‚dass die Sachen nicht klappen.‘“ Auch aus der Fachliteratur geht hervor, dass PatientInnen, die in Behandlung sind, selten ausschließlich wegen Symptomen einer Internetsucht behandelt werden. Häufig stehen unterschiedliche psychische Belastungen im Hintergrund, etwa Depressionen. Grunderkrankungen wie diese treiben demnach PatientInnen in die Arme des Internets, zum Beispiel in den endlosen Sumpf der Videos. Wer aber sagt, dass es nicht die Internetabhängigkeit ist, die PatientInnen in die Depression treibt? Uhl hält fest, man könne die Frage was vorangeht „nicht für alle Betroffenen stellen, weil das ist bei jeder bzw. jedem anders. Meistens ist es so, dass das eine das andere verstärkt und umgekehrt.“
Es kann jeden treffen. Doch wer ist besonders gefährdet?
Lässt man demografische Faktoren wie Alter und Geschlecht außen vor, spielen vor allem persönliche Faktoren eine große Rolle. Macht es einen Unterschied, ob Menschen extrovertiert oder introvertiert sind? Die erste Vermutung, die dem einen oder anderen an dieser Stelle vermutlich in den Kopf kommt, dass introvertierte Charaktere einem höheren Risiko ausgesetzt sind, ist aber nur eine Seite der Medaille. Es gibt Beschreibungen, so Strizek, die ein erhöhtes Risiko bei extrovertierten Menschen sehen. Diese nutzen demnach Medien, um ihre Selbstdarstellung „auf die Spitze zu treiben.“ Auf der anderen Seite stehen introvertierte Charaktere, ganze besonders, wenn sie sozial gehemmt, oder schüchtern sind. Diese nutzen Onlineaktivitäten eher kompensatorisch. „Was man online machen kann ist einfach so unterschiedlich“, dass es schwerfalle, gewissen Gruppen ein erhöhtes Risiko zuzuschreiben. Introvertierte Personen können sich hinter der Anonymität des Internet verstecken und es zum Zeitvertreib auf verschiedenste Arten nutzen.
Internetsucht – eine ernstzunehmende Erkrankung?
Obwohl der exzessive Internetgebrauch erst in den letzten Jahren aufgekommen ist, gibt es die Internetsucht auch im therapeutischen Sinne schon viele Jahre. Bereits 1995 wurde die Sucht als Krankheit anerkannt und in den Therapiebereich miteinbezogen. Der amerikanische Psychiater Ivan Goldberg definierte sie als „internet addiction“, um sich darüber lustig zu machen, dass aus allen Verhaltensweisen Krankheiten konstruiert werden – aber bald danach setzte sich die Diagnose als ernst genommene Diagnose durch. Auch in Österreich gilt diese Form der Sucht seit einiger Zeit als ernstzunehmende Erkrankung. Seit mittlerweile 15 Jahren wird sie im Anton-Proksch-Institut behandelt und therapiert. Durch diese jahrelange Erfahrung kann Betroffenen dort gut geholfen und ihnen ein Weg aus der Sucht ermöglicht werden.
Gefährdung durch „YouTube“
Besondere Aufmerksamkeit erfahren Online Games, deren Nutzungsdauer und Auswirkungen häufig diskutiert werden. Die JIM-Studie gibt wieder, dass Jugendliche im Alter zwischen 12 und 19 Jahren das Internet intensiver für andere Unterhaltungszwecken nutzen, als für Spiele, die in dieser Studie separat abgefragt wurden. Das schließt Musik, Bilder und Videos mit ein. Der Anteil der des Spielens an der Gesamtnutzungszeit liegt bei rund 30 Prozent. Bei Spielen hingegen ist der Anteil mit etwa 20 Prozent um einiges geringer.
Die negativen Auswirkungen der Abhängigkeit entstehen vor allem wegen der Zeit, die in Onlineaktivitäten investiert wird. Ein ausschlaggebender Faktor dabei ist die ständige Verfügbarkeit. In Zeiten der mobilen Endgeräte wie beispielsweise dem Smartphone haben RezipientInnen allzeit die Möglichkeit, an Videocontent zu gelangen. Sowohl unterwegs als auch zuhause, eine zeitliche oder örtliche Beschränkung gibt es nicht mehr. Je mehr Zeit für Videos oder andere Onlineinhalte aufgebracht wird, desto mehr leidet der Alltag darunter. Frühere Freizeitaktivitäten oder Interessen werden vernachlässigt, was sich negativ auf die Beziehungen der betroffenen Personen auswirkt. Eine so verursachte Änderung der Ess- und Schlafgewohnheiten kann zu ernsten Störungen führen. Eine besonders hohe Nutzung kann den Alltag früher oder später derart dominieren, dass ein geregelter Tagesablauf nicht mehr möglich ist und PatientInnen dem gewohnten Alltag nicht mehr nachgehen können, warnte der Suchtprophylaktiker Kläser 2016.
Das Ampelmodell als Therapieansatz
„Abstinenz ist nicht das Ziel, es geht vielmehr um Medienkompetenz. Der Patient bzw. die Patientin soll lernen einen kompetenten Umgang mit dem Internet zu schaffen“, so Mader. Dieser Ansatz ergibt sich durch die Unmöglichkeit das Internet aus dem Leben des/der Patienten/in zu entfernen. Aufgrund dessen wird in der Therapie häufig das Ampelmodell herangezogen. Dabei wird der Gebrauch in einem dreistufigen Ampelsystem kategorisiert:
– Rot: Ein bestimmtes Medienangebot darf nicht mehr genutzt werden (z.B. „YouTube“-Videos schauen, falls die Nutzung zu exzessiv wurde)
– Gelb: Darf unter bestimmten Bedingungen bzw. in Begleitung in Anspruch genommen werden
– Grün: Hierbei ist uneingeschränkte Nutzung erlaubt
Jene drei Bereiche werden mit dem/r Therapeuten/in gemeinsam besprochen und festgelegt, um eine möglichst positive Veränderung zu bewirken.
Die Seite eines Betroffenen
Um einen Vergleich herstellen zu können, wurde neben den Suchtexperten ein unter Internetsucht leidender Jugendlicher (17) befragt. Für das Interview war es sein Wunsch anonym zu bleiben. X bemerkte seine Internetabhängigkeit erst vor Kurzem. Viele seiner Familienangehörigen machten ihm bereits zuvor viele Vorwürfe und verstanden sein Computerverhalten nicht. Er selbst konnte diesen Anschuldigungen nichts anerkennen und führte seine täglich mehrstündige Abhängigkeit weiter. Erst als sich seine Freunde und Freundinnen immer mehr von ihm abwandten bzw. von ihm vernachlässigt wurden, bemerkte er eine starke Veränderung. Ihm wurde bewusst, dass er das Internet exzessiver nutzt als andere und er sich von der Realität immer mehr entfernte. Der Jugendliche hatte schon als Kind mit mangelndem Selbstwertgefühl zu kämpfen und verlor sich deswegen in seiner virtuellen Welt, seiner „sicheren und glücklichen virtuellen Welt, die mit Gleichgesinnten geteilt werden kann“, wie er beschreibt. X verbringt bis zu 14 Stunden täglich vor seinem Computer und widmet sich auch seinen schulischen Verpflichtungen kaum mehr. Er beschreibt die Sucht als Teufelskreis, da man bei Nicht-Verfügbarkeit Unruhe und Stress verspürt und aufgrund dessen sich wieder dem Internet zuwendet.
Der Weg zurück in die Realität
X nimmt sich für seine Zukunft vor, in Therapie zu gehen, da es meint, es sei für eine Selbstheilung wahrscheinlich bereits zu spät. Sein Leben soll wieder lebenswerter werden, Freunde und Freundinnen sollen ein wichtiger Teil davon sein und auch ist es sein Ziel, die Schule positiv abzuschließen.
Internetgebrauch wird auch in weiterer Folge Teil unser aller Leben sein, der Umgang und die Kompetenz dabei sind jedoch von maßgeblicher Relevanz. Bei beruflichen oder schulischen Angelegenheiten bedarf es heutzutage schlicht und einfach eines Internetzugangs und die Nutzung ist nicht unvermeidbar. Doch vor allem im sozialen Bereich ist es von höchster Relevanz, den persönlichen Kontakt zu stärken und Social Media nicht dominieren zu lassen. Sonst kann das virtuelle Leben das reale schnell überdecken und das Suchtpotenzial verstärken.
Von Katharina Glück, Teresa Takacs