Was haben der einst so populäre Musik-TV-Sender „VIVA“ und die Musik- und Popkulturzeitschrift „SPEX“ gemeinsam? Beide haben in den vergangenen drei Jahren ihren Betrieb eingestellt.
Heute stellt sich die Frage, ob im Zeitalter von „YouTube“ und „Spotify“ Musikfernsehen und -magazine überhaupt noch eine Rolle spielen.SUMO sprach daher mit dem Musiksoziologen Michael Huber und Theresa Ziegler, Chefredakteurin des österreichischen Kulturmagazins „The Gap“, über Musiksozialisation, wirtschaftliche Herausforderungen von Musikmedien sowie Musikwahrnehmung in der digitalen Ära.
Ein Freitag im November 2013, 14:00 Uhr. Ich eile von der Schule nach Hause, denn um 15 Uhr beginnen die „VIVA Top 100“. Meine einzige Sorge: die ersten Musikclips zu verpassen. Mein Bruder wartet bereits gespannt vor dem Fernseher und ist bereit für das Highlight der Woche und den Start in das Wochenende. Das Leben ist einfach schön und die Welt in Ordnung.
Die Rolle der Musiksozialisation
So oder ähnlich ging es vielen jungen Erwachsenen in Deutschland und Österreich, die in den 1990er und 2000er Jahren mit „VIVA“ und MTV aufgewachsen sind. Auch Michael Huber, stellvertretender Leiter des Instituts für Musiksoziologie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, erinnert sich gerne zurück und verdeutlicht die Rolle der Musiksozialisation. Die MTV-Sendung „120 Minutes“, eine Musik–Show, in der die neuesten und interessantesten Clips gezeigt wurden, habe er damals mit seinem VHS-Rekorder aufgenommen, um am nächsten Tag nachzusehen, ob etwas Spannendes dabei war. Mit Fragen wie „Hast du schon das neue Video von ‚Nine Inch Nails‘ gesehen?“ wurden die Themen des nächsten Tages durch solche Sendungen festgelegt, wodurch man mit der Rezeption dieser Inhalte soziales Kapital innerhalb einer Gruppe generieren konnte, so Huber. Für die gebürtige Bayerin und Chefredakteurin von „The Gap“, Theresa Ziegler, war der österreichische Musikfernsehsender „gotv“ sogar der erste Zugang zu österreichischen Musikmedien und einer der ersten Anknüpfungspunkte für ihre spätere musikjournalistische Karriere. „Hier habe ich zum ersten Mal ein ‚Bilderbuch‘-Musikvideo gesehen“, erzählt Ziegler.
Geld ist nicht alles
Als Paradebeispiel, dass es bei Musikmedien nicht ausschließlich um monetäre, sondern auch um gesellschaftliche Aspekte geht, dient „The Gap“. Aus Theresa Zieglers Sicht wäre ein monatliches Erscheinen des Magazins durchaus möglich, wobei sich dabei aber die Frage des Sinnes stellen würde. „Unter meiner Redaktion habe ich ‚The Gap‘ als Magazin verstanden, das in die Tiefe geht, also von AuskennerInnen für AuskennerInnen“. Dabei werde auch der Begriff Popkultur weit gefasst, da es nicht nur um konkrete Albumveröffentlichungen geht, sondern auch um „Strukturen und Bewegungen hinter den Themen“, so Ziegler weiter. Daher wäre der zweimonatige Erscheinungsrhythmus sinnvoller, weil dadurch mehr Zeit für intensivere Recherchen der Meta-Themen bleibe und gesellschaftspolitische Hintergründe besser beleuchtet würden. Mitte April 2020, zur Zeit der ersten Corona-Welle, hat „The Gap“ beschlossen Kulturschaffende in Österreich mit einem Kulturkalender zu unterstützen, in dem Online-Veranstaltungen der KünstlerInnen dort eingetragen wurden. Und das, obwohl man selbst auch nicht von der Krise verschont wurde: „Der erste Lockdown kam gerade bei einer Magazin-Produktion und das hat uns natürlich getroffen. Was passiert jetzt? Aber uns war schnell klar: Wir haben ein gewisses Verantwortungsgefühl gegenüber der Szene“, meint Ziegler. Dies sei etwas sehr österreichspezifisches, da Österreich zwar ein kleines Land, die Szene allerdings groß und divers sei. Damit hätte man als Musikmedium ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Ein Mitgrund für die intensive Berichterstattung während dieser Zeit sei auch die mangelnde Aufmerksamkeit für die Beeinträchtigung der österreichischen Kulturlandschaft gewesen, so Ziegler weiter.
„gotv“ gibt´s auch noch?
Unverständnis für die immer noch existierenden Musik-TV-Sender zeigt Huber, denn für ihn sei es „völlig schleierhaft“, wie Quoten zustande kämen, die das Ganze für den Werbemarkt interessant machen. „Wenn ich durch die Fernsehsender zappe, denke ich mir: ‚gotv‘ gibt’s auch noch? Und wenn ich ein Video sehe, das bei mir nostalgische Gefühle hervorruft, dann bleibe ich die paar Minuten dran und sehe es mir an.“ Abgesehen davon könne Huber den klassischen Musiksendern mittlerweile nichts mehr abgewinnen und das trotz der Tatsache, dass MTV während seiner Studentenzeit sein „täglich Brot“ war. „‚YouTube‘ in Kombination mit dem Smartphone war der Anfang vom Ende des Musikfernsehens“, meint Huber. Durch die leichte Verfügbarkeit, überall und zu jeder Zeit, hätte „YouTube“ den one–to–many–Musiksendern den Hahn abgedreht. „Musikfernsehen gibt mir vor, wann ich was zu schauen habe.“ Sendungen hätten früher den Tag strukturiert und heute habe man zu jeder Zeit Zugriff auf Musik. Daher sagt Huber auch: „Ich sehe keinen Grund, warum ich Musik-TV schauen sollte.“ Zudem seien junge MusikhörerInnen Multi-Channel-User und würden daher oft den Musikclips nicht die volle Aufmerksamkeit schenken. Huber könne auch die Kritik am Musikfernsehen verstehen, die sich zu musikfreien Zonen entwickelten und statt spannenden Musikvideos dutzende Reality-, Fiction- und Spielshow-Formate zeigten, um die Quoten zu erhöhen. „Um Reality-Formate zu schauen, brauche ich keinen Musiksender“, so Huber. Das Alleinstellungsmerkmal von MTV war es, innovative Clips zu zeigen, die es nur dort zu sehen gab. Nur ist dieser Bedarf verschwunden als, „YouTube“ & Co. aufkamen. Als Ironie des Schicksals könnte man es bezeichnen, dass ausgerechnet YouTube-Stars innerhalb der letzten Sendeminuten von „VIVA“ Lebewohl sagen, denn gerade diese Video-Plattform hat dazu beigetragen, dass der Sender eingestellt wurde.
„Gedruckte Musik“
Andere Meinungen vertreten Huber und Ziegler allerdings, wenn es um gedruckte Musik geht. „Es gibt Dinge, die haptisch mehr Sinn machen“, erläutert Ziegler. Daher sei sie auch sehr zuversichtlich, was die Zukunft von „The Gap“ betrifft, da die Marke sehr gut funktioniere und Teile der Zielgruppe es eher als Print-Magazin statt als Online-Medium kennen. Die Menschen, die in den 1970er bis 1990er ihre Musiksozialisationsphase hatten, wären auch heute noch bereit, hohe Preise für Schallplatten und Special Interest–Magazine zu bezahlen, erläutert Huber. So lange diese Zielgruppe groß genug sei, zahle es sich für einzelne Magazine aus, diese zu produzieren. Warum „SPEX“ nicht mehr funktioniere, „The Gap“ aber sehr wohl, sei laut Ziegler nicht eindeutig zu sagen. „Der Markt in Deutschland ist anders als in Österreich, Musikmärkte lassen sich nicht vergleichen.“ Obwohl es der gleiche Sprachraum ist, sei die Kultur eben doch anders. „‚SPEX‘ war in den 1980er Jahren ein kritisches Medium“, für innovative Inhalte sehe man sich heute jedoch lieber Blogs an, berichtet Huber und gibt an, dass das Internet „SPEX“ den Rang abgelaufen habe.
Musikwahrnehmung heute
Laut dem Musiksoziologen habe die Bedeutung von Musikrezeption insgesamt verloren, denn „so intensiv beschäftigt sich heute niemand mehr mit Musik, also sich hinzusetzen und anzusehen, wie ein Cover gestaltet ist, Texte und Informationen zu KünstlerInnen nachzulesen, interessiert die Leute nicht mehr“. Grund dafür sei, dass die Freizeitgestaltung früher nur beschränkte Möglichkeiten bot und man heute wesentlich mehr Möglichkeiten hätte. Dieser Meinung ist Ziegler nicht, denn zumindest in ihrem Freundeskreis werde viel über Popmusik und „Hintergründe von KünstlerInnen sowie über gesellschaftspolitische Strömungen, die diese auslösen“, diskutiert. Doch nicht nur in ihrem Bekanntenkreis, auch auf Social Media gebe es viele Diskussionen, die bei einigen Fans mancher KünstlerInnen gar als Religionsersatz bezeichnet werden könnten. Bei der Fanbase von Taylor Swift etwa gäbe es „ganze Dissertationen, welche Sexualität und Hintergründe sie hat“ sowie penibelste Analysen ihrer Musik. Einig sind sich die beiden MusikexpertInnen bei der Überschwemmung des heutigen Musikangebots, was aber laut Ziegler nicht unbedingt zu einer verminderten Auseinandersetzung mit Musik führe, denn gerade aufgrund des vermehrten Angebots setzten sich MusikenthusiastInnen intensiver mit Musik auseinander. Musikmedien heute müssten daher als „Meinungsorgan auftreten, das Diskussionen anstößt und vor allem Kontextwissen anbietet“, fordert Ziegler. Wenn etwa die Veröffentlichung eines neuen Albums anstehe, müsse man laut Ziegler aufzeigen: „Was passiert dahinter, daneben, davor, darunter und darüber?“
(Noch) Kein Ende in Sicht
Auf die zukünftige Entwicklung von Musikmedien angesprochen, meint Theresa Ziegler, dass vor allem Print-Magazine sich weg von der Newsorientierung hin zu meinungs- und kontextbildenden Inhalten bewegen sollen, denn für News gebe es ja das Internet und die jeweiligen Social Media–Kanäle der KünstlerInnen selbst. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Michael Huber. „Es gibt nach wie vor eine kritische Masse, die gerne etwas in der Hand hat“ und solange diese Masse groß genug sei, werde es Musik in gedruckter Form geben. Dem Musikfernsehen hingegen beschert der Musiksoziologe keine Zukunft. „Wenn sie ‚gotv‘ morgen abdrehen, würde mir das nicht auffallen.“ Dafür würde beispielsweise eine wöchentliche Sendung wie „Tracks“ auf ARTE völlig ausreichen. Ein eigener, linearer 24 Stunden-Musiksender sei aufgrund von „YouTube“ mittlerweile überflüssig. Bei gedruckten Musikangeboten sieht er hingegen noch Potential. Das Magazin für Vinyl-Kultur „MINT“ etwa würde von Jahr zu Jahr umfangreicher. Auch Vinyl-Schallplattenspieler wären bereits out gewesen, mittlerweile kommen aber viele neue Einsteigermodelle auf den Markt. Einzig ein TV-Format, das all diese Interessen bündle, könne funktionieren.
No „VIVA“, no Friday
Ein Freitag im November 2020, 14:00 Uhr. Ich eile nicht von der Fachhochschule nach Hause, denn dank Corona und Fernlehre bin ich bereits da. Mein Bruder wartet nicht vor dem Fernseher, er ist ausgezogen. Die „VIVA Top 100“ gibt es nicht mehr, da „VIVA“ Ende 2018 eingestellt wurde.
von David Pokes