Wer die Worte „Suizid“ und „Webcam“ gemeinsam in eine Suchmaschine eingibt, erhält eine große Auswahl an verschiedensten Home-Suicide-Streams. SUMO sprach dazu mit Silvia Breitwieser, Bereichsleiterin der Diözese Linz, und der Logotherapeutin Sandra Ebner.
Die Suizidrate in Österreich ist seit dem Jahr 1986 rückläufig, erläutert Silvia Breitwieser, auch Leiterin der Telefonseelsorge in Oberösterreich. Damals lag der Höchstwert bei über 2.000 Suizide pro Jahr, nun bei knapp über 1.000. Seit der Wirtschaftskrise 2009 habe sich ein Plateau eingependelt. Die Suizidrate bei Männern ist höher als bei Frauen, wobei es bei den Suizidversuchen genau umgekehrt ist. Breitwieser beschreibt, dass sich Menschen die an Suizid denken oft in einer verzweifelten Situation befinden und so wie sich ihr Leben derzeit gestaltet nicht mehr leben wollen. Doch wie kommt es überhaupt soweit, dass man sich das Leben nehmen will? Ausschlaggebend seien Krisen im Leben. „Wie der eine oder die andere mit diesen schwierigen Lebenssituation klarkommt, hängt oft von den persönlichen Ressourcen ab.“ Die Persönlichkeit, wie man aufgewachsen ist, innere und äußere Einflüsse, auch soziale Ressourcen oder einfach welche Bedeutung die Krise hat, seien entscheidend für die Bewältigung dieser schweren Phasen, meint Breitwieser.
Betrachtet man den Suizid nach logotherapeutischem Ansatz, so wird er als „Nein auf die Sinnfrage“ beschrieben. Ein suizidaler Mensch sei nach dieser Auffassung unfähig, in seinem aktuellen Leben einen Sinn zu finden und sich vorzustellen, zukünftig einen Sinn zu finden, erklärt Sandra Ebner. Grundsätzlich zählen zu den Risikogruppen Menschen, die schon einen Suizidversuch hinter sich haben, suchtbetroffen sind oder einen Suizid von einer/einem Angehörigen miterlebt haben. Der häufigste Grund sei jedoch eine psychische Erkrankung, Menschen mit Depressionen hätten das höchste Suizidrisiko.
Bei Kindern bis zu 14 Jahren sind es in Österreich pro Jahr nur ein paar Suizide. Bei 15-19-Jährigen liegt die Zahl weit unter hundert. Jugendsuizide erreichen eine größere mediale Aufmerksamkeit und auch eine größere Betroffenheit bei der Bevölkerung. Es steigen also nicht die Jugendsuizide an, sondern die Medienberichte. Das Internet bietet vor allem für junge Menschen eine große Fläche an Austauschmöglichkeit. Sogenannte Suizidforen dienen als Anlaufstelle für die Informationssuche rund um den Suizid. Andererseits bilden diese auch eine Plattform, die Betroffenen ermöglicht, sich über das tabuisierte Thema „Selbsttötung“ auszutauschen. Auch wenn es professionell geleitete Foren gibt, die zur Suizidprävention dienen, darf man die negative Seite nicht aus den Augen verlieren. Suizidhandlungen werden glorifiziert, die natürliche Hemmschwelle zur Selbsttötung wird herabgesetzt und man feuert sich gegenseitig zur Tat an.
„Wer sich selbst tötet, ist egoistisch.“
Menschen, die den Freitod wählen, wird öfters das Urteil an den Kopf geworden, egoistisch zu sein und nicht an ihre Familien und Angehörigen zu denken. Bis es überhaupt zum Suizid kommt, durchleben die Betroffenen verschiedene Phasen, die Außenstehenden nicht ersichtlich sind, daher ist es leicht zu urteilen. Tatsächlich ist es aber oft genau anders, als es aussieht. Erwägen – Abwägen – Entschließen, sind grob gesagt die drei Hauptphasen. Im ersten Stadium wird die Suizidhandlung in Erwägung gezogen, um Probleme, die unlösbar wirken zu lösen. Das 2. Stadium ist durch die Ambivalenz zwischen leben wollen und sterben wollen geprägt. Im letzten Abschnitt wird die endgültige Entscheidung gefällt, werden die Vorbereitungen getroffen und der passende Augenblick abgewartet. In Bezug auf Suizidprävention ist es besonders wichtig, während der ersten zwei Phasen mit der persönlichen Beratung anzufangen. Sobald das letzte Stadium erreicht wird, ist der innere Kampf vorüber und der Entschluss zum Suizid gefasst. Erst hier einzugreifen erschwert die Suizidprävention enorm. Ziel ist es, den langen Weg zu begleiten und das Ende zu verhindern. Oft fühlen sie sich, als ob es den Angehörigen erst besser gehen würde, wenn sie nicht mehr da sind. Der Suizid ist das Opfer, das sie bringen, um den Liebsten ein besseres Leben zu ermöglichen, eigentlich eine sehr uneigennützige Überlegung. Es gibt aber verschiedenste Gründe, aus welchem Motiv sich Menschen das Leben nehmen. Hier unterscheidet man zwischen dem egoistischen, altruistischen, anomischen und fatalistischen Selbstmord.
Ebner meint, dass es nicht allgemein belegbar sei, welche Menschen aus welchem Motiv Cybersuicide begehen. Unter Cybersuicide, oder auch „social suicide“ genannt, versteht man einen Suizid oder Suizidversuch, der von Websites beeinflusst wird. Durchaus gebe es aber den Fall, dass Leute im medialen Mittelpunkt stehen wollen und sich daher entschließen, ihren Suizid zu streamen. Ein anderes Motiv sei Rache. Bei Mobbingopfern sei die Verbreitung über das Internet beliebt. So wollen Betroffene ihren Mobbern als letzten Abschluss mit Schuldgefühlen und übler Nachrede schaden. Nicht Aufmerksamkeit zu erlangen, sondern vielmehr Mut zu beweisen stehe hier im Vordergrund, so Silvia Breitwieser, Leiterin der Notseelsorge. 8 von 10 Personen, die ihr Leben beenden wollen, reden davon. Nur sehr wenige sprechen darüber, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Es sei daher sehr wichtig, jede Anspielung auf Suizid ernst zu nehmen. Denn selbst wenn Menschen Aufmerksamkeit erhaschen wollen, sei das ein Zeichen, dass sie Hilfe brauchen und sich nicht anders zu helfen wissen. Wenn mental labile Personen von anderen auch anfälligen Personen zur Selbsttötung angestachelt werden, sei es naheliegend, dies auch gleich vor laufender Kamera in einem Chatroom zu machen. Es geht daher oft weniger um die mediale Verbreitung, sondern um die Anerkennung und Erfüllung der Wünsche der im Chatroom Anwesenden. Trotzdem hat jeder Mensch eigene Motive und Gründe zur Selbsttötung. So ist es unmöglich eine allgemein geltende Antwort zu geben.
Maßnahmen
2017 starben in Österreich dreimal so viele Menschen an Suizid als bei Verkehrsunfällen, so der Bericht von „Suizidprävention Austria“ (SUPRA). Grund dafür ist vor allem die weitaus schwierigere Regulierung von Suiziden im Vergleich zu Maßnahmen für den Straßenverkehr. In Österreich gibt es auf institutionalisierter Ebene zwei nationale und einige lokale Projekte zur Suizidprävention. Diese sind laut dem Bundesministerium für Gesundheit einerseits ein koordinierter und standardisierter medialer Umgang für die Berichterstattung von Suiziden sowie eine Einflussnahme auf die Waffengesetzgebung im Sinne einer Suizidprävention. Seit einigen Jahren werden unter medialen Suizidberichten Notrufstellen genannt. Neben den nationalen Richtlinien, die zur Reduzierung der Selbsttötungsrate verhelfen sollen, gibt es auch andere Maßnahmen, die zur Reduktion führen. Der Social Media-Gigant „Facebook“ sucht aktiv nach bestimmten Keywords und reagiert auf diverse Postings. Hilfseinrichtungen vermitteln in Deutschland und Österreich an „Facebook“, wenn Suizide angekündigt werden. Medial präsente Selbsttötungen führen zu unzähligen Nachahmungen – insbesondere unter Jugendlichen, wie erst kürzlich eine südkoreanische Studie (Lee 2019) ergab. Vor allem bei berühmten Persönlichkeiten, die ihr Leben beenden, wird eine Ausnahme bei der Berichterstattung gemacht, was tödliche Folgen hat.
Von Elena Weissengruber