Die virtuelle rosarote Brille

Gemeinsames Frühstücken mit Freunden, eine kurze Shoppingtour um modisch auf dem neuesten Stand zu sein, danach die Fahrt in die Arbeit und am Abend auf ein Konzert, morgen steht die Hochzeit an. Und das alles in den eigenen vier Wänden erleben. Virtuell. Mit Virtual Reality Brille. Im Metaverse. Die ganze Welt nach Hause holen.

von Theo Kämmerer

Der eigene Avatar nach Ideal- und Traumvorstellungen zusammengestellt. Vielleicht Sixpack, volles Haar, Vollbart oder Haare bis zur Hüfte, andere Augenfarbe oder Tattoos. Im Metaverse ist das eigene Aussehen mit einem Klick veränderbar. Setzt man die VR-Brille aber ab, dann kann man die Umwelt plötzlich nicht mehr durch einen Mausklick verändern. Plötzlich zeigt sich wieder die Realität: Die dunkle, versiffte Wohnung zwischen Pappkartons mit Pizzaresten. Das Metaverse zwischen neuen Chancen, Möglichkeiten und der Funktion als utopischer Zufluchtsort.

Second try statt Second Life

Die Idee des Metaverse ist nicht neu, bereits in der Mitte der 2000er Jahre gab es das „Second Life“. Kein anderer Anbieter hat zum damaligen Zeitpunkt den Nutzerinnen und Nutzern so viele Freiheit bei der Gestaltung von Inhalten und Interaktionen angeboten. Grundlegend unterscheidet sich das derzeitige Metaverse von Second Life in der Bedienung. Während man für Second Life lediglich den Client auf seinen Computer herunterladen musste, ist für den Zutritt ins Metaverse die Virtual Reality Brille aus dem eigenen Hause notwendig, Kostenpunkt aktuell rund 350 Euro.

Second Life hat sich dennoch nicht durchgesetzt. Dies lag offenbar an mehreren Faktoren: Zum Beispiel hat der Grad der Freiheit im Second Life eine unerwartete Höhe erreicht. Die nutzergenerierten Inhalte senkten zwar für die Produktionsfirma die Kosten für Investitionen in die Inhalterstellung, allerdings waren mit der User-Freiheit einhergehend die Koordinations- und Kontrollkosten hingegen hoch. Auch die Übersättigung von Gütern sorgte im Second Life für Probleme. Items wie Kleidung beispielsweise nutzen sich nicht ab oder werden schmutzig. Somit sammelten sich im Laufe der Zeit immer mehr und mehr Items an.

Doch Mark Zuckerberg mit seinem Meta-Konzern will jetzt alles anders, alles besser machen. Die Aktionärinnen und Aktionäre sind skeptisch, die Meta-Aktie fällt weiter und der Konzern will sich von mehr als 11.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trennen. Mark Zuckerberg stellt kürzlich ein neues Feature im Metaverse vor. Laut Zuckerberg, eines der wahrscheinlich am häufigsten gewünschten: Beine. „Jeder hat auf Beine im Metaverse gewartet“. Ob Beine den Meta-Aktienkurs retten werden wird sich zeigen. Mittlerweile ist auch bekannt, dass die Beine in der Präsentation gar nicht echt sind, sondern nur eine künstlerische Interpretation, was später einmal möglich sein sollte mithilfe von Motion Capture.

Nicht nur Zuckerbergs Meta-Konzern geht mit einer virtuellen Welt an den Start. Auch andere Anbieter sind bereits am Markt tätig, wie beispielsweise die europäische Union. Die hat fleißig in ein eigenes EU-Metaverse investiert. Am 13. Oktober ist das „Global Gateway“ veröffentlicht worden, inklusive großer Party für 387.000 Euro und fünf anwesenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Die Mozilla Foundation, die gemeinnützige Organisation hinter dem Open-Source Browser Firefox hat mit Mozilla Hubs auch ein eigenes Metaverse erschaffen. Das 2020 veröffentlichte Decentraland hat auch bereits das Interesse von Wirtschaftstreibenden geweckt, die österreichische Post etwa hat in der virtuellen Welt eine Post-Filiale eröffnet.

Ein „Selfie“ im EU-Metaverse „Global Gateway“.
Quelle: Screenshot von „Global Gateway“, aufgenommen am 12. Dezember 2022

Abtauchen und eintauchen

Ob im Freibad, im See oder im Meer: Eintauchen und abtauchen. Zuerst ist der Widerstand noch groß, einmal eingetaucht ist aber alles plötzlich ganz leicht. Heißt im Metaverse: Sind die Eintrittsbarrieren überwunden, ist man bereits mitten im Geschehen. Und der Hintergedanke ist ja berechtigt: Der Lebensraum wird immer kleiner, die Bevölkerungszahlen wachsen weiter und Wohnmöglichkeiten verengen sich immer mehr und mehr. Statt einer Ein-Zimmer-Wohnung in der Realität eine ganze Villa im Grünen mit Garten? Mit dem Metaverse ist das möglich und die Baugründe liegen bei einigen tausend Euro. Teuer, aber nicht so teuer wie in Ballungsgebieten in der „echten Welt“ eben. Personen wenden sich aufgrund von unbefriedigenden Lebensumständen hin zu einer idealen und traumgleichen Welt. Was vor vielen Jahren das Fernsehen war, kann in Zukunft Virtual Reality und das Metaverse sein. Von einer Shoppingtour mit digitaler Kleidung als NFTs bis hin zu Live-Konzerten ist vieles möglich. Auch für Unternehmen bieten sich dadurch neue Geschäftschancen. Zukunftsforscher Nils Müller: „Das Metaverse wird verändern, wie Unternehmen mit Kund:innen interagieren, wie Arbeit erledigt wird, welche Produkte und Dienstleistungen Unternehmen anbieten, wie sie diese herstellen und vertreiben und wie sie ihre Unternehmen betreiben.“

Realitätsflucht

Diese Flucht vor der Realität nennt sich Eskapismus. Gerade während der Corona-Pandemie hat die gewünschte Flucht vor dem Alltag noch einmal zugenommen und das werktags um sogar 75 Prozent. Auch das vollständige Eintauchen, die Immersion in das Spiel und die virtuelle Welt bietet neue Möglichkeiten. Im Vergleich zu den bekannten passiven genutzten Medien wie Radio und Fernsehen wird mit der VR-Brille das Spielerlebnis stärker und der Spielende ist mittendrin. Emotionen und Bedürfnisse können ausgelebt werden, wie es im realen Leben häufig nicht der Fall ist, weil beispielsweise das Schamgefühl und generell Schüchternheit einfacher überwunden werden können. Auch außergewöhnliche Herausforderungen können beliebig oft wiederholt werden. Denkt man beispielsweise an das Computer-Spiel GTA5, so kann die Challenge mit einem Jet durch den Tunnel zu fliegen oder vor der Polizei zu flüchten beliebig oft wiederholt werden. Man wird automatisch neu geboren, im Gegensatz zum „echten Leben“.

Laut dem Schriftsteller und Philosophen Richard David Precht biete das Metaverse Möglichkeiten für, zum Beispiel, Arbeitslose als Ablenkung von der eigenen Realität. Auch Politiker und Regierungen weltweit erwarten sich einiges vom neuen Metaverse. Das Ministerium für Informationstechnologie, Wissenschaft und Zukunftsplanung in Südkorea hat dafür sogar 186,7 Millionen US-Dollar zugesagt. Laut einer offiziellen Ankündigung der Regierung sei das Ziel, das Wachstum digitaler Inhalte und die damit verbundenen Unternehmen im eigenen Land zu fördern.

Unterschiede zum Real Life zeigte auch eine Studie zu „Second Life“ und dessen Akzeptanz der technischen Universität Dresden aus dem Jahr 2010: Geringe soziale Normen und Nutzungshandlungen finden typischerweise privat und unbeobachtet statt. Genau das ist auch schon das Problem im jungen Metaverse: es gab bereits einen ersten Fall von sexueller Belästigung.

Chancen

Metaverse hat als Herausforderung, die Komplexität der virtuellen Welt, im Gegensatz zu Second Life, zu reduzieren, aber auf keinen Fall die Kreativität und Dynamik zu sehr zu begrenzen. Wenn dieser Spagat gelingt, dann bietet das Metaverse Unternehmen neue Möglichkeiten, Wertschöpfungsketten zu optimieren und in das digitale Leben zu transferieren und neue virtuelle Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Eine aktuelle Studie mit 16 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Universitäten Cambridge und Primorska gemeinsam mit Microsoft haben gezeigt, dass eine volle 40 Stunden-Woche in der virtuellen Realität zu einem gesteigerten Frustrationslevel, zu einer gesteigerten Arbeitsbelastung und zu vermehrten Angstzuständen führe. Auch die Belastung der Augen wurde von den Probanden angemerkt. Es zeigt sich daher, dass die Idee großartige und neue Möglichkeiten bietet, die Umsetzung aber noch Zeit brauchen wird. Angst vor dem Metaverse sollen wir in jedem Fall aber nicht haben, so VR-Expertin Johanna Pirker.

In Österreich zeigt eine Befragung zum Thema Metaverse, in Auftrag gegeben vom Handelsverband, dass 38 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sich vorstellen können, im Metaverse aktiv zu sein. Die allgemeine Bekanntheit ist noch gering. Fast jeder zweite hat noch nie davon gehört.

Über den Autor

Copyright: Theo Kämmerer

Theo Kämmerer studiert Medienmanagement an der Fachhochschule St. Pölten. Seine Interessen liegen in den Bereichen Digitales und Technik. Erste journalistische Erfahrungen hat der Student in Salzburger Regionalmedien sammeln können.