Digital First? Das Kino im Streaming-Zeitalter

Netflix & Co. sind schon lange keine Randerscheinung mehr in der Medienbranche. Streaming ist die neue Gegenwart und die Rezipienten*Innen erfreuen sich über die neugewonnenen Freiheiten bei ihren Filmabenden.

Leidtragender dieser Entwicklung ist die Kinowirtschaft, deren zukünftige Rolle für viele Experten ungewiss sei.  

Kinos waren einst das Herzstück der Unterhaltungsbranche. Filmliebhaber*Innen standen in Schlangen an, um einen Platz im Kinosaal ergattern zu können. Es war ein Ort der Exklusivität, in dem das Publikum popcornraschelnd den neusten Blockbuster entgegenfieberte. In der jüngeren Zeit wurde dem Kino jedoch sein einstiger Glanz abgesprochen. Diese Urteile sind auf mehrere Dynamiken zurückzuführen. 

Einerseits haben sich die audiovisuellen Nutzungsgewohnheiten der Rezipient*innen stark verändert. Durch den Vormarsch von Streaming-Anbietern, aber auch Videoplattformen wurde Rezipient*Innen eine vielfältigeres und flexibleres Leistungsspektrum unterbreitet. Andererseits trug die Corona Pandemie über die letzten Jahre zur erschwerten Situation am Kinolangfilmmarkt bei und führte zum kompletten Stillstand sämtlicher Kinos. Diese Entwicklung beschleunigte den Trend zum Streaming. Große Player wie Disney oder Warner Bros. forcierten ihre digitale Strategie und veröffentlichten Neuerscheinungen über ihre eigenen Plattformen als On Demand-Inhalte. Aufgrund dieser Situation stellt der Filmwissenschaftler Lars Henrik Gass die These auf, dass das kommerzielle Kino keine Zukunft habe. Das sind harsche Worte, doch um ein umfassenderes Bild über die Zukunft des Kinos formulieren zu können muss man viele weitere Faktoren berücksichtigen. 

Die Kinowirtschaft in Zahlen  

Mit Blick auf den österreichischen Kinomarkt ist die Hypothese von Gass nachvollziehbar. Die aktuellen Statistiken des Österreichischen Filminstituts zeigen rückläufige Zahlen.  

Am deutlichsten ist dies anhand der Kinobesuche im Jahr 2020 zu erkennen. Im Vergleich zum Vorjahr kam es in den heimischen Kinos zu einem Rückgang von nahezu 72%. Diese Zäsur ist der Corona-Pandemie zuzuschreiben, doch auch über die letzten zehn Jahre ist eine negative Tendenz zu erkennen. In Relation zum Jahr 2005 gibt es 2021 in Österreich 33 Kinostätten weniger. Der österreichische Film hat sich in diesem schwierigen Jahr wacker geschlagen. Acht Prozent der Erstaufführungen stammen aus Österreich. Damit liegt man im Ranking auf Platz vier. Nur Frankreich, Deutschland und die USA brachten mehr Filme in die heimischen Kinos.  

Dies Entwicklungen betreffen jedoch nicht nur Österreich, sondern sind auch innerhalb Europas zu erkennen. Die Europäische audiovisuelle Informationsstelle sammelt europaweite Daten zu unteranderem der Kinowirtschaft und fasst diese Ergebnisse regelmäßig zusammen. Gemessen auf ganz Europa sind 2020 die Umsätze an den Kinokassen von 7,2 Mrd. € auf 2,1 Mrd. € geschrumpft.  

(Kino-) Filme im Wandel 

Streaming-Anbieter haben die bisherigen Gegebenheiten am audiovisuellen Rezipientenmarkt schon länger auf den Kopf gestellt. Kevin McDonald und Daniel Smith-Rowsey diskutieren diesen Wandel unter dem Begriff „Netflix Effect“. Das Medienunternehmen Netflix zähle zu den größten Playern des 21. Jahrhunderts und sei wesentlich für die existierende Trendwende verantwortlich. Drei Faktoren stehen für sie im Mittelpunkt.  

Zum einen wird der technologische Fortschritt hervorgehoben. Netflix trieb die „Datafizierung“ der individuellen Rezeptionsmuster stark voran. Durch ausgeklügelte Algorithmen werden den User*Innen Vorschläge unterbreitet. Die selektive Auswahl and Filmen bzw. Serien ist an die Präferenzen der individuellen User*Innen angepasst und ermöglicht so das Entdecken sowie Rezipieren von maßgeschneidertem Unterhaltungsprogramm. Daran anschließend wird auch die Wahlfreiheit der User*Innen hervorgehoben. Der Vorzug der Streaming-Plattformen im Gegensatz zum Kino oder auch dem linearen Fernsehen war stets die zeitliche und räumliche Flexibilität der Rezeption. Die Zusehenden haben mittlerweile die Option der zeitindividuellen Rezeption vieler Titel und müssen sich keinem Programmschema unterwerfen. Zu guter Letzt heben die Autoren den Einfluss von Netflix auf das Mediennutzungsverhalten hervor. Sie machte das Phänomen „binge watching“ zu einer gängigen Form des Rezipierens von Serien/Filmen. Exzessive Serienmarathons gab es zwar schon vor Netflix, doch die Plattform vereinfachte diesen Prozess durch die nahtlose Aneinanderreihung mehrere Episoden. Serien avancierten dadurch auch zu einem sozialen Ereignis. Über soziale Medien tauschen sich Rezipient*Innen unmittelbar über Neuerscheinungen aus und fördern die Partizipationskultur rund um beliebte Inhalte. Die veränderten Sehgewohnheiten stehen somit im eindeutigen Kontrast zum periodischen Muster der ursprünglichen Rezeptionsweise.  

Kino & Streaming – harmonische Koexistenz? 

Der Einfluss von Netflix übertrug sich auch auf die Größen der Film- und Kinowirtschaft. Sie zogen nach und launchten eigene Streaming-Plattformen. Allen voran ist hier Disney+ zu erwähnen, wo alle Produktionen der Walt Disney Company exklusiv inkludiert sind. Die Pandemie zwang sie ebenfalls die klassische Windowing-Kette zu überdenken. Um potenzielle Verluste zu kompensieren, wurden für den Kinostart eingeplante Filme direkt über die Streaming-Plattform angeboten. Disney Filme wie „Mulan“ (2020), „Raya und der letzte Drache“ (2021) aber auch die Warner Bros. Produktion „Wonder Woman 1984“ (2020) wurden als On-Demand Inhalte veröffentlicht und verzichteten somit auf einen verspäteten Start in den Kinos. Mit „James Bond: Keine Zeit zu sterben“ schlug Universal Pictures jedoch eine andere Route ein. Die Premiere des Films wurde sieben Mal nach hinten verschoben, weil eine Ausstrahlung im Kino oberste Priorität hatte. Der Blockbuster zielt damit auf die traditionelle Kinoromantik ab und ließ sich von den digitalen Vormärschen der Konkurrenz nicht beirren. In der Tat lassen sich nach der pandemiebedingten Krise wieder Achtungserfolge am Kinomarkt erkennen, die dieser Form der Strategie Aufwind verschafft. Der Film „Top Gun: Maverick“ (2022) erzielte zum Beispiel weltweite Box-Office Erlöse in Höhe 1,4 Mrd. Dollar.  

Denis Villeneuve beschreibt das Verhältnis von SVoD-Plattformen und dem Kino folgenderweise: “Streaming services are a positive and powerful addition to the movie and TV ecosystems. But I want the audience to understand that streaming alone can’t sustain the film industry as we knew it before COVID.“ Mit diesen Worten bezieht der Regisseur Position und beteuert das Streaming keinen Ersatz für die Kinoerfahrung darstellt. Große Blockbuster wie sein Werk „Dune“ (2021) müssten im Kino ausgestrahlt werden da hier die Tragweite des Films widergespiegelt werden kann.  

Die Kinowirtschaft steht nach der Corona-Pandemie und der Marktsättigung mit SVoD-Angeboten vor Herausforderungen hinsichtlich des Geschäftsmodells. Einerseits beherrscht es auch weiterhin seinen inhärenten Event-Charakter – Medienmanager Gerhard Zeiler behauptet: „Kino hat als großes Ereignis – oder als Nische – eine Zukunft.“ Während der Pandemie zeigten sich Kinobetreiber beispielsweise innovativ, indem sie Autokinos wieder ins Leben riefen. Dadurch wurde Filmliebhaber*Innen ein sicherer Ort geboten, um Filme auf der großen Leinwand zu rezipieren. Selbst nach dem Abflachen der pandemischen Lage erfreuen sich diese Kinostätten großer Beliebtheit. Das immersive Erlebnis eines Kinobesuchs ist in diesem Sinne nicht substituierbar. Blockbuster in einem vollgepackten Kinosaal zu sehen, hat noch immer eine hohe gesellschaftliche Anziehungskraft. Andererseits haben es weniger prominente Kinoproduktionen schwer, sich gegen die On Demand-Verwertung zu behaupten. Diese Inhalte ziehen nicht die gleiche Aufmerksamkeit auf sich wie Blockbuster alla „James Bond“ oder „Top Gun“ was dazu führt, dass der Markt für Kinofilme schmaler geworden ist. Die Riepl´sche Theorie scheint auch in diesem Kontext zu greifen und die Player am Bewegtbildmarkt werden Strategien entwickeln müssen wie sie das Kino als auch SVoD-Angebote gewinnbringend ausschöpfen können.

Von Wanja Lang

Beitragsbild-Copyright: Pexels.com/Bence Szemerey