In der gegenwärtigen Zeit erreichen uns ununterbrochen Informationen über unterschiedlichste Kanäle: Soziale Netzwerke, Liveblogs, Messenger-Dienste, Print-Medien, Filme, Bücher, … Welche Auswirkung haben diese Einflüsse auf die Entwicklung unserer Persönlichkeit? Wie schafft man es, aus der Informationsflut zu selektieren? Wie kann man dem digitalen Stress entkommen und gefährdet dieser Triple Overload unsere Kreativität? SUMO hat bei Tobias Lammert, Geschäftsbereichsleiter Marketing & Vertrieb bei der WDR mediagroup, und dem Neurologen Volker Busch, der sich in seinem Buch „Kopf frei“ und seinem Podcast „Gehirn gehört“ implizit mit Reizüberflutung und digitalem Stress auseinandersetzt, nachgefragt.
von Victoria Kneil
Konzentrationsspanne
Acht Sekunden lang kann sich ein Durchschnittsmensch heute konzentrieren. Laut einer Studie von Microsoft aus dem Jahr 2015, welche sich mit dem Thema „attention span“ beschäftigt, schafft ein Goldfisch neun. Ziemlich peinlich, oder nicht? Und der Trend geht nach unten: „Durch die Pandemie hat sich die digitale Reizüberflutung mit Sicherheit nochmals erhöht. Viele Untersuchungen zeigen, dass während der Pandemie mehr Mails verschickt worden sind, mehr Online-Meetings stattgefunden haben und Freizeitaktivitäten wie das Theatergehen durch ein Netflix-Abonnement ausgetauscht wurden“, ist Dr. Volker Busch überzeugt.
Der ständige Blick auf das Smartphone, die durchgehende Erreichbarkeit und „FOMO“ – die Angst etwas zu verpassen sowie die verlockende Versuchung den Feed durchzuscrollen, scheinen unserer Aufmerksamkeitsspanne nicht gerade gut zu tun. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie des Wirtschaftsberatungsunternehmens Deloitte aus dem Jahr 2017.
Auswirkungen auf die Kreativität
Nur noch selten konzentrieren wir uns auf eine einzige Sache. Die digitale Welt ist aber auch wirklich verlockend! Vieles deutet darauf hin, dass der digitale Stress, verursacht durch Datenüberlastung, Kommunikationsüberlastung und kognitive Überlastung – der sogenannte „Triple Overload“ – erhebliche Nebenwirkungen mit sich bringt. Die digitale Welt schadet aber nicht nur unserer Aufmerksamkeit und Konzentration, sondern auch unserer Kreativität. Einerseits bieten uns Medien zwar viele Möglichkeiten unsere Kreativität auszuleben, andererseits sind wir abhängig von der täglichen Daten- und Informationsflut und nehmen uns nur selten bewusst Auszeit für kreatives Denken. „Durch die stetige Internetpräsenz haben wir mit einer verringerten Konzentrationsfähigkeit und Kreativität zu kämpfen. Schuld hat unter anderem der Datenhunger der Streamingdienste – wir müllen uns unglaublich mit Informationen zu, die für uns nicht nur unrelevant sind, sondern unsere Kreativität vielmehr blockieren. Wir machen uns selbst zu dummen Konsument*innen und befinden uns dabei in einem digitalen Hamsterrad, aus dem wir durch die tägliche übermäßige Nutzung nicht mehr ausbrechen können. Um kreativ sein zu können, braucht es Zeit und Raum“, so Tobias Lammert.
Förderung der Kreativität
Dabei könnten wir das Ausleben unserer Kreativität als Ressource nutzen, um dem Alltagsstress und der Reizüberflutung zumindest für kurze Zeit zu entfliehen. Kreativität kann gefördert werden, indem man sich bewusste Pausen gönnt, beziehungsweise erzwingt. Eine Studie der Washington University in St. Louis belegt, dass Meetings im Stehen die Kreativität und Teamarbeit der Mitarbeiter steigern. Diese fühlen sich dadurch gezwungen, konzentrierter zu sein und sind durch diese Maßnahme weniger Ablenkungseinflüssen ausgesetzt. Statt endloser To-Do-Listen braucht es Not-To-Do-Listen und Fokuszeiten. Die Empfehlung von Tobias Lammert lautet: „Um sich vor den Folgen der digitalen Reizüberflutung zu schützen und somit wieder auf neue Ideen zu kommen, kann man das Triple A-Verfahren, bestehend aus Analyse, Ableitung und Action, anwenden: der erste Schritt wäre es, den eigenen Medienkonsum zu betrachten, im zweiten Schritt sich zugestehen, dass es zu viel ist und diesen beschränken, um im dritten Schritt der Reizüberflutung zu entkommen. Das ist ein stetiger Prozess.“
Bedeutung des Nichtstuns
Laut Neurowissenschaftler und Arzt Volker Busch hat das Nichtstun eine sehr große Bedeutung: „Natürlich tut das Gehirn immer etwas, aber ‚Nichtstun‘ bedeutet in diesem Zusammenhang keine Informationen von außen aufzunehmen und bewusst auf Medien zu verzichten, damit bestimmte Netzwerke die Chance haben hochzufahren, die die ganzen Informationen, die man vorher aufgenommen hat, verarbeiten. Nur wenn wir die digitale Nabelschnur einmal durchtrennen und uns von der Außenwelt entkoppeln, kann dieses Netzwerk hochfahren. In der Fachsprache nennt man das ‚selbstreferenzielles Denken‘: Bezüge und Verknüpfungen werden hergestellt, man erinnert sich an etwas und man kommt zu neuen Ideen und Perspektiven.“ Also Ja zur Langeweile, denn diese treibt uns an, aktiv zu werden. Wie es auch im Kontext von Kindererziehung empfohlen wird, sollten Eltern nicht jede Langeweile des Kindes reflexhaft beantworten. Die Kinder müssen lernen selbst kreativ mit ihrer Zeit umzugehen. „Auch wenn sie im ersten Moment quengelig sein werden, nach einiger Zeit werden die Kinder etwas zum Spielen finden, seien es Stöcke, Murmeln oder Bälle. Es ist wichtig diese Langeweile zuzulassen, schließlich taugt unser Gehirn viel mehr, als sich stundenlang Katzenvideos anzuschauen.“
Die Macht der Kreativität
Die Digitalisierung fordert uns alle. Wir alle sind Konsument*innen, deren Kaufverhalten es zu beeinflussen gilt. Der Wettbewerb zwingt Unternehmen, die Aufmerksamkeit ihrer Kund*innen innerhalb kürzester Zeit zu gewinnen. „Die ersten drei bis acht Sekunden sind entscheidend: Wird in dieser Zeitspanne keine Relevanz im kognitiven System des Customers festgestellt, schaltet er um. Das liegt zum einen an den Smartphones und somit den Netzwerkeffekten sowie andererseits am Konfusionseffekt. Der Mensch ist zu ungeduldig, um sich in längere Formate zu vertiefen“, erklärt Tobias Lammert. „Die ständige Reizüberflutung hat definitiv Auswirkungen auf die Werbewirksamkeit – durch die Vielfalt an Angeboten müssen Werbebotschaften kreativer sein, um die Menschen zu erreichen. Kampagnen arbeiten oft mit leiseren Tönen und Stille, um die Aufmerksamkeit der Konsument*innen zu gewinnen. Generell gilt: Je höher die Traffic, desto geringer die Wirkungswahrscheinlichkeit. Werbung muss unaufdringlich und wohlplatziert sein, um die Menschen zu erreichen“, ergänzt Lammert.
Inhalte müssen Menschen catchen. Um dies zu erreichen, benötigt es kreative Ideen. Um unser Gehirn neu zu justieren, benötigen wir Auszeiten.
„Um kreativ sein zu können, muss für unser Gehirn eine Atmosphäre geschaffen werden, in der es weniger mit der Außenwelt beschäftigt ist, sondern mehr mit den Dingen, die schon da sind und noch verknüpft werden müssen. Das macht das selbstreferenzielle Netzwerk allerdings nur in Ruhe. Wenn man dem Gehirn diese Ruhepausen nicht ermöglicht, weil man durch Digitalkonsum abgelenkt ist, dann beschäftigt es sich mit neuen Informationen. Auf kreative Ideen kann man nur in monotonen und reizarmen Umgebungen kommen, beispielsweise beim Spazieren im Wald, in den Bergen oder beim Liegen in der Hängematte. ‚Assoziatives Denken‘, wie man es in der Fachsprache nennt, ist nur bei Ruhe möglich“, erklärt Neurowissenschaftler und „Kopf frei“- Autor Volker Busch.
Kreativität erfordert also Stille und selektive, zielgerichtete Erfahrungen. Demnach: Setzen wir das Time Out in der Hängematte auf unsere To-Do-Liste!