Ausgehend von Schweden belebt die Gratiszeitung weltweit den kriselnden Zeitungsmarkt. Doch nicht auf allen Zeitungsmärkten schaffte es die Gratispresse erfolgreich Fuß zu fassen.
Mit Fokus auf den DACH-Raum diskutiert SUMO über die Implementierung und Etablierung der Gratiszeitung mit dem Medienwissenschaftler und Direktor des Instituts für Praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung Michael Haller und Fritz Hausjell, stv. Vorstand am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.
Vor einiger Zeit haben Tageszeitungen, die allein durch den Werbemarkt finanziert werden, weltweit die bislang statischen Marktverhältnisse aufgebrochen. Etablierte Zeitungsverlage sehen ihre Marktposition und ihren Stellenwert in der Gesellschaft bedroht. In manchen Ländern resultiert daraus ein hart umkämpfter Wettbewerb, konstatierte Horst Röper bereits 2006 („Media Perspektiven“). Zudem birgt die Abhängigkeit vom Werbemarkt zwei wesentliche Probleme: Zum einen herrscht eine große Substitutionskonkurrenz auf dem Markt, zum anderen können Werbetreibende fast identische Zielgruppen erreichen, in verschiedenen Medienprodukten werben oder auf das Internet ausweichen, so Mündges und Lobigs („Handbuch Medienökonomie“, 2020).
Historischer Überblick
Die Geburtsstunde der Gratistageszeitung reicht bis ins Jahr 1882 zurück. Der Unternehmer Charles Coleman schaffte es seinen „Generalanzeiger für Lübeck und Umgebung“ in hoher Auflage zu produzieren und zu verteilen. Später wurde die Zeitung schrittweise zu einer Kaufzeitung umgestellt. Ähnliche Vorreiter sind unter anderem die „Manly Daily“ aus Australien, „Aspen Daily“ in den USA und die „Daily News“ aus Großbritannien, stellte Michael Haller in seinem großen Forschungsprojekt „Gratis-Tageszeitungen in den Lesermärkten Westeuropas“ fest (erschienen als Buch 2009). Mit der Gründung des Titels „Metro“ 1995 in Stockholm hat sich das Konzept als wirtschaftlich tragfähig erwiesen. Das Boulevardblatt etablierte sich schnell als nachgefragter Zeitungstyp, dennoch wurde die neue Marktnische auf Seiten der Qualitätszeitungen behindert. Diese Strategie funktionierte in manchen Ländern weniger erfolgreich als in anderen, so Röper. Somit etablierten sich innerhalb von Europa markante unterschiedliche Trends. Bevor es Gratiszeitungen im tagesaktuellen Bereich gegeben habe, wurden bereits Gratisblätter, wie das „Bezirksblatt“, seit den frühen 1990er Jahren in Österreich verbreitet. Von den Menschen werde aber auch in dieser Hinsicht wahrgenommen, dass die redaktionelle Kraft eher bescheiden sei. Diese Form der Gratispublizistik sei bereits am Land bekannt gewesen und habe nicht die Qualitätszeitungen betroffen, erklärt Hausjell.
Die Distributionskanäle von Gratiszeitungen
Um Reichweite zu generieren, müssen Zeitungen, die ausschließlich über Werbeerlöse finanziert werden, ihren Fokus auf die Distributionspolitik legen. Um optimale Reichweite erzielen zu können und um die entsprechende Zielgruppe, meist im Alterssegment von 25-50-jährigen, zu erreichen, bedarf es einer Distributionslogik, die das Publikum zeitlich sowie räumlich anspricht, sodass es optimal nutzungswillig ist. Wichtig dabei ist, dass potentielle Rezipient*innen auf die Zeitung aufmerksam gemacht und in weiterer Folge angelockt werden. Die Medienhäuser setzen dabei auf die Verteilung meist im öffentlichen Nahverkehr, per Zeitungsspender oder Handverteiler. Demnach werden Gratiszeitungen auch oftmals als Pendlerzeitungen betitelt, da diese überwiegend in Bahnhöfen verteilt werden. Dieses effiziente Verfahren bringt unter anderem den Vorteil, dass innerhalb kürzester Zeit viele Exemplare verteilt werden können. Berufstätige junge Pendler*innen sind für die Werbewirtschaft besonders attraktiv. Auf diese Weise können aber auch Angehörige von Minderheiten eher erreicht werden, konstatierte Haller 2009. Viele Menschen würden die Gratisblätter als eine Art Ergänzung zu ihren üblichen Medien lesen, meint Hausjell. Besonders das sozial schlecht gestellte Publikum greife am stärksten zur Gratispresse, das sei aber auch durchaus auf Seiten der Medienmacher*innen intendiert.
Ein Vergleich im DACH-Raum
Die Zeitungsmärkte der DACH-Länder weisen Gemeinsamkeiten in Punkto Struktur und Entwicklung auf, aufgrund von historischen Ereignissen und unterschiedlichen Marktgrößen gibt es laut Mündges und Lobigs aber auch fundamentale Unterschiede. Während die Tamedia AG (heute TX Group AG) mit dem Boulevardblatt „20 Minuten“ (deutschsprachig) und „20 Minutes“ (französischsprachig) sowie die Ringier AG – bis 2018 – mit „Blick am Abend“ es geschafft haben, drei gut aufgestellte Gratiszeitungen mit hohen Reichweiten in der Schweiz zu etablieren, hat sich laut Haller in Deutschland bisher auch aus rechtlichen Gründen keine Gratistageszeitung richtig entfalten können. Auch die Schweizer Gratiszeitungen nahmen ihren Ausgangspunkt in Skandinavien. Die schwedische Boulevardzeitung „Aftonbladet“ des norwegischen Medienkonzerns Schibsted stand in direkter Konkurrenz mit dem schwedischen Kinnevik-Konzern, da dieser 1995 in Stockholm mit seiner Tochtergesellschaft Modern Times Group das Gratisblatt „Metro“ lancierte und den Abo-Zeitungen einen Teil ihres Anzeigenaufkommens wegnahm. Schibsted übernahm die Strategie der Konkurrenz und gründete mit Partnern in der Schweiz die 20 Minuten Holding GmbH. Auch in Österreich haben sich drei Gratistageszeitungen durchgesetzt: „Heute“, „Österreich“ und die „Tiroler Tageszeitung Kompakt“ haben sich konsolidiert und es geschafft, den Zeitungstyp zu etablieren. Nach der Einführung des Blattes „Heute“ 2004 versuchte „Österreich“ 2006 erst als reine Kaufzeitung Fuß zu fassen. Jedoch habe der Markt dies nicht getragen, sodass der allergrößte Auflagenteil gratis vertrieben wird. Vor der Gründung von „Heute“ publizierte der Verlag Mediaprint („Krone“ und „Kurier“) 2001 als Verteidigungsstrategie gegen Schibsted sein eigenes Wiener Gratisblatt „U-Express“. Auf Grund der steigenden Kosten, die für die notwendigen Qualitätsstandards essenziell waren, und wegen Konflikten mit den Miteigentümern der „Kronen Zeitung“ habe man sich nach drei Jahren dazu entschieden, ihn wieder einzustellen. In Deutschland wurden Gratiszeitungen nach mehreren gescheiterten Versuchen um die Jahrtausendwende vollständig vom Markt verdrängt, schrieb Haller 2009. Großverlage wie Springer wollten keine kostenlose Zeitung in Deutschland, weil sie um das eigene Geschäft fürchten. Europaweite Untersuchungen ergaben laut Marcus Haas („Media Perspektiven“, 2006) aber, dass die Ängste eher unbegründet sind. Nachdem in Deutschland das Projekt „15 Uhr aktuell“ beendet wurde und der sogenannte Kölner Zeitungskrieg in den Jahren 1999-2001 ausgefochten war, traute sich kein Verleger mehr, in den größten und umsatzstärksten Markt einzutreten, so Medienforscher Haller. Die schwedischen Medienkonzerne Metro International und Schibsted planten den Eintritt, nahmen allerdings wieder Abstand von diesem Vorhaben. Ein Grund für den Rückzug sei vor allem die Angst vor einem langen Kampf mit der führenden Axel Springer-Verlagsgruppe gewesen. Seither gab es keine erneuten Anläufe, Gratistageszeitungen zu etablieren. Deutschland illustriert laut Haller, dass der Rückgang von Marktanteilen deutscher Zeitungen und auch die Gesamtauflagen der Tagespresse unbeeinflusst von der Gratispresse verlief.
Auswirkungen des Typus Gratiszeitung
Hypothetisch gesehen, können zwei verschiedene Trends aus der Diskrepanz zwischen Boulevard- und Qualitätszeitungen entstehen. Entweder schaffen es kostenlose Zeitungen als Ersatz für Kaufzeitungen zu fungieren und werden diese zu gegebener Zeit vom Markt verdrängen. Oder sie werden als erkennbares andersartiges Substitutionsprodukt anerkannt, das laut Haller (2009) eine andere Leserschaft beziehungsweise Nutzungswünsche bedient. Zudem hat sich die wirtschaftliche Basis der Presse verschlechtert. Werberückgang und Auflagenschwund bestimmen die Lage, somit gefährden knappe Ressourcen die Qualität des Journalismus, konstatierten Hagenah, Stark und Weibel („Medien und Kommunikationswissenschaft“, 2015). Laut Haller würden immer weniger junge Menschen Qualitätsjournalismus unterstützen, da die Inhalte jener Zeitungen auch in Zukunft online verbreitet werden. Das Ganze erfolge auf einer stark diversifizierten Weise, vom E-Paper über Podcasts, lokale TV-Videos sowie Newsletter bis hin zu digitalen Special Interest-Angeboten und Services. Hinter der Vielfalt stecke dennoch auch eine gewisse Einfalt, da die Inhalte einer Mehrfachverwertung unterliegen. Aus einer Recherche entstehen viele verschiedene Ausspielformate, dies könne für die Endnutzer*innen mühsam werden, da herausgefiltert werden muss, ob es sich nun um einen identen Inhalt handle, unterstreicht Hausjell. Aktuell beobachte man die Weiterentwicklung vom Gratisangebot zum hybriden Angebot, das bedeute, dass das informatorische Grundrauschen gratis bleibe, eigene Stories aber via Paywall nur mehr kostenpflichtig einsehbar sind. Das führe insbesondere zum oft debattierten Thema Clickbaiting. Die Gratiszeitung sei im Unterschied zu den Wochenblättern für Haller lediglich ein Übergangsmodell. An dieser Stelle könne man sich das bekannte Riepl’sche Gesetz in Erinnerung rufen, wonach neue Medien alte Medien nicht verdrängen. Gratiszeitungen werden in dieser Hinsicht als eine Ergänzung des Marktes und nicht als Ersatz angesehen. Haller zufolge funktionieren digitale Gratisangebote als Erweiterung der gedruckten Gratiszeitung, die hätte gegen die Ubiquität des Internet keine Chance. Wenn man sich ansieht, wie oft klassische Printmedien schon zu Grabe getragen worden sind, haben sie dennoch sehr viele andere Medien, unter anderem das Radio und Fernsehen, miterlebt sowie überlebt. Sieht man sich die mutmaßliche Inseratenaffäre rund um eine österreichische Gratiszeitung ansieht, dürfe nicht außen vorgelassen werden, dass diese Skandale auch einen erheblichen Einfluss auf die Zukunft jener Blätter haben werden, resümiert Fritz Hausjell.
von Viktoria Ecker
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