Intelligente Inklusion: Wie sehbehinderte Journalist*innen arbeiten

Von Verena Kraus

Viele Medienhäuser arbeiten stetig daran, ihre Produkte für Nutzer*innen mit Sehbehinderung zugänglich zu machen. Doch wie sieht es mit der Barrierefreiheit für Journalist*innen mit Sehbehinderung aus? Christoph Ammann und Dominic Schmid liefern Einblicke in ihr Berufsleben und erklären, wie sehbehinderte Journalist*innen in einer so auf Optik getrimmten Zeit arbeiten.

„Der Schlaf in der Koje ist friedlich. Von den vielen Stopps des Zuges, der auch ein IC ist, bekommt man wenig mit. Hier ein Ruckeln bei der Fahrt über Bahnhofsweichen, dort eine ferne Lautsprecherstimme und am Morgen das energische Klopfen der Nachtstewardess. Während draussen Windmühlen, schwarz-weiss gefleckte Kühe auf fetten Weiden und Kanäle vorbeiziehen, tönt es: «In einer guten Stunde treffen wir in Amsterdam ein, gleich bringe ich das Frühstück.»“

Diese Worte schrieb Christoph Ammann in seinem Artikel Im Schlaf nach Amsterdam fahren, der am 23. Mai 2022 auf der Website des Schweizer Tages-Anzeiger veröffentlicht wurde.

Ammann ist Schweizer, 65 Jahre alt. 36 Jahre lang war er Reisejournalist bei verschiedenen Medien. Im Laufe dieser Jahre bereiste er etliche Länder, lernte bis dato für ihn fremde Kulturen kennen – und berichtete seinen Leser*innen davon. Zuletzt war er ein Vierteljahrhundert lang als Teamleiter „Reisen“ bei der SonntagsZeitung in Zürich tätig. Seit Dezember 2022 ist er in Pension, bleibt der Redaktion aber weiterhin als freier Mitarbeiter bestehen. All das, obwohl er ein unübersehbares Handicap mitbringt: Er ist blind.

Ammann hat eine genetisch bedingte Netzhauterkrankung, die ihm ab 2005 nach und nach sein Sehvermögen nahm – Retinitis Pigmentosa. 2010 erblindete er völlig. Dennoch hielt ihn seine Behinderung nicht von seinem Beruf ab. Doch wie kann eine Redaktion intelligent Barrieren durchbrechen, denen sehbehinderte Journalist*innen gegenüberstehen? In Ammans Fall wurde das relativ unkompliziert gelöst: Bereits als die ersten Symptome auftraten, ging Ammann sehr offen mit seiner Erkrankung und ihren Folgen um. Er informierte seinen Arbeitgeber und ließ sich seinen Arbeitsplatz so umgestalten, dass er auch als blinde Person dort weiterarbeiten konnte. Zu seinem Glück, so erzählt er im Interview mit SUMO, seien die Reaktionen seines Arbeitgebers sehr positiv ausgefallen und er habe die Unterstützung, die nötig war, erhalten.

Da Ammans Krankheit schleichend verlief, blieb ihm genug Zeit, sich noch als Sehender mit seinem neuen Arbeitsplatz vertraut zu machen, sich einzuarbeiten und seine neuen Hilfsmittel kennen zu lernen. Auch seine Kollegen hatten dadurch die Möglichkeit, sich auf die Veränderung einzustellen und sich mit Ammann über die neue Situation auszutauschen. Anstatt selbst vom Bildschirm zu lesen, bekommt Ammann Texte und E-Mails von dem Screenreader-Programm JAWS vorgelesen. Seine Artikel schreibt er nach wie vor selbst auf einer normalen Tastatur und JAWS liest ihm das Getippte vor. Um sicherzugehen, dass seine Beiträge fehlerfrei sind, werden seine Artikel von einer Assistentin Probe gelesen, erklärt er.  Mit Künstlicher Intelligenz habe er sowohl beruflich als auch privat noch nichts zu tun gehabt, sagt Ammann. Dass KI die Barrierefreiheit für Menschen mit Sehbehinderung verbessern könnte, denkt er nicht.

Auch das Reisen – der Kernaspekt im Reisejournalismus – gab Ammann nicht auf. Anstatt sich optisch ein Bild seiner Reiseziele zu machen, verlässt er sich nun mehr auf seine anderen Sinne, um Eindrücke zu sammeln, wie zum Beispiel sein Gehör. Seine Art des Berichtens hat sich seit seinem Erblinden dennoch verändert, sagt Ammann. Seinen Fokus rückte er von den optischen Eindrücken seiner Reisen mehr auf die Leute vor Ort und die Geschichten, die er über sie erzählen möchte. Trotzdem hat er auf Reisen meist eine Person mit dabei, die ihm Eindrücke und Details erklärt.

Fernsehjournalismus funktioniert – ohne Sehen

Dominic Schmid ist ebenfalls Journalist und wie Ammann blind. Er ist Mitte Zwanzig und zog 2022 von Tirol nach Wien und absolvierte dort zuerst ein Praktikum bei einem Fernsehsender des ORF. Danach zog es ihn zum Radio. Welche Erfahrungen er da wie dort gemacht hat, erzählt er im Interview:

Wie war das Praktikum als Fernsehjournalist für Sie?

Es war für mich sehr interessant. Es gab für mich sehr wenige Unterschiede, sehr wenige Barrieren. Viel selbst drehen konnte ich zwar nicht, aber das machen andere auch nicht immer. Das Schneiden habe ich nicht selbst ausprobiert, das ginge vielleicht, aber ich weiß es nicht. Aber dafür gibt es ja eigene Cutter*innen. Was sehende Kolleg*innen allerdings schon gemacht haben war das Aussuchen von Sequenzen anhand von Bildern oder Originaltönen. Das habe ich nicht gemacht, aber alles andere – die Recherche und so weiter – war für mich sehr gut machbar.

Was waren Ihre Aufgaben im Praktikum?

Konzepte für Beiträge schreiben, zu Drehs mitkommen, zum Schnitt mitgehen und zu schauen, welche OTs (Anm.: Originaltöne) gut passen könnten. Das waren meine Aufgaben.

Gab es auch Aufgaben, die für Sie eine größere Herausforderung dargestellt haben?

Eigentlich nicht, das hat alles gut funktioniert.

Hatten Sie auch technische Hilfsmittel, um sich die Arbeit zu erleichtern?

Technische Hilfsmittel habe ich insofern, dass ich mit den Programmen JAWS und ZoomText arbeite. JAWS ist ein Programm, das mir die Texte in Brailleschrift ausgibt. ZoomText ist ein Vergrößerungsprogramm. JAWS hat aber auch eine Sprachausgabe. Das ist vor allem dann praktisch, wenn ich Recherche betreibe und mir auf einer Website einen Überblick über einen längeren Text verschaffen möchte. Das habe ich mir dann oft vorlesen lassen.

Jetzt sind Sie beim Radio gelandet. Gibt es große Unterschiede in Ihrem neuen Arbeitsalltag?

Es gibt eigentlich nur einen wesentlichen Unterschied und der ist, dass ich jetzt auch selbst schneiden kann. Ich habe mir mal sagen lassen, dass beim Fernsehen einfach viel mehr Technik und Ausrüstung benötigt wird, und dann auch viel mehr Leute zum Dreh mitkommen müssen. Beim Radio können alle Redakteur*innen selbst rausgehen, Aufnahmen machen und die auch gleich schneiden. Das Medium ist für mich besser, da es nicht auf das Visuelle geht und ich daher mehr selber machen kann.

Was sind Ihre Aufgaben als Radiojournalist?

Bis jetzt habe ich immer die Recherche gemacht. Jetzt habe ich auch einen Beitrag zum Thema Barrierefreiheit gestaltet und ihn eingesprochen. Für einen Beitrag kommt immer zuerst die Recherche. Dann kontaktiere ich die Interviewpartner, führe die Interviews und schneide die Aufnahmen. Danach schreibe ich den Offtext und versuche, das Ganze einzusprechen.

Gibt es beim Radio Aufgaben, die etwas schwieriger sind für Sie?

Anfangs habe ich gedacht, dass ich meine Texte von einem Zettel ablesen muss, was für mich kaum bis gar nicht möglich ist. Daher habe ich versucht, die Texte auswendig zu lernen, aber jetzt habe ich gemerkt, dass es besser ist, wenn die Texte gesprochen klingen – am besten wäre also, wenn ich die Hard Facts kenne und dann darüber erzähle, so wie wir zwei uns gerade unterhalten. Mit einem unserer Schnittprogramme hatte ich zu Beginn auch ein bisschen Schwierigkeiten. Da habe ich dann eine eigene Schulung bekommen, in der mir der Schulungsleiter alles nochmal langsam erklärt hat und mir auch viele Tastenbefehle gezeigt hat, mit denen ich leichter arbeiten kann. Seitdem klappt alles sehr gut.

Hatten Sie jemals Angst, dass sich Ihr Berufswunsch nicht erfüllen könnte?

Ja, einmal im Studium. Es gab immer wieder Menschen, die ein wenig daran gezweifelt haben, ob es eine gute Idee ist, wenn ich Journalist werde. Aber dann habe ich Leute kennen gelernt, die blind sind und beim Radio arbeiten und nun weiß ich, dass es funktioniert.

Gibt es etwas, dass Sie sich von Arbeitgebern im Umgang mit blinden Menschen wünschen würden?

Wenig Ängste haben und versuchen, mich einfach so wahrzunehmen wie die anderen Personen auch. Ich habe mit einer Kollegin mal einen Dreh gemacht über mich und sie hat dann gesagt ‚Du unterschiedest dich im Prinzip ja nicht von anderen Praktikant*innen. Dir muss man auch alles erklären, dir muss man auch gewisse Sachen zeigen und da gibt es wenig bis keine Unterschiede.‘ und das denke ich mir auch. Am besten ist es, mich einfach so als Mensch wahrzunehmen, so wie die anderen auch und meine Behinderung auch gar nicht so groß zum Thema zu machen. Ich sage oft, wenn ich was brauche, melde ich mich schon.

Christoph Ammanns und Dominic Schmids Geschichten zeigen nicht nur, dass eine Karriere als Journalist*in sich sehr wohl mit einer Sehbehinderung vereinbaren lässt – wenn die richtigen Hilfsmittel und die nötige Unterstützung vorhanden sind, sondern auch, dass es viel einfacher ist, das Berufsfeld barrierefrei zu gestalten, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Infobox:

Die Kriterien für eine Sehbehinderung variieren je nach der Definition, die herangezogen wird. Der Berufsverband der Augenärzte in Österreich und Deutschland beschreibt eine Sehbehinderung mit einer maximalen Sehschärfe von 0,3 auf dem besseren Auge bei bestmöglicher Korrektur durch Kontaktlinsen oder Brille. Das entspricht ungefähr 30 Prozent Sehvermögen.

Eine hochgradige Sehbehinderung wird beschrieben als maximale Sehschärfe von 0,05 auf dem besseren Auge bei bestmöglicher Korrektur – also etwa fünf Prozent.

Als Blindheit wird eine maximale Sehschärfe von 0,02 definiert, was in etwa zwei Prozent entspricht.

Viele blinde Menschen verfügen über ein Restsehvermögen – sie können zum Beispiel Licht und Schatten, hell und dunkel unterscheiden – und nur sehr wenige Menschen sind wirklich zu hundert Prozent blind.

Verena Kraus | Copyright: Nikolas Rode