Mit Virtual Reality-Reportagen und 360°-Videos ist das Publikum in der Lage, mittendrin statt nur dabei zu sein – die Nachrichten werden real und wir tauchen in eine neue Dimension der Berichterstattung ein. SUMO sprach dazu mit dem österreichischen Präsidenten der VR/AR Association, CEO & Gründer von e.com, Michael Schöggl, sowie mit Siegfried Steinlechner, Redakteur und Projektleiter für digitale Medien im Kulturbereich vom ORF.
Ein ganz normaler warmer Sommer-Nachmittag 2016 in Fallujah. Die Sonne strahlt und ein leichter Wind weht durch die leblosen Straßen. Ein schäbiges altes Haus – inmitten der Wände klaffen einige Löcher. Ein schwarz gekleideter Iraker ist umgeben von vier angespannten Männern in Militärausrüstung. Er liegt auf einem roten Teppich mit goldenen Akzenten und in seiner Hand ein geladenes Sniper-Gewehr. Langsam und vorsichtig zielt er durch eines der Löcher in die Ferne. Plötzlich ein lauter Knall.
Etwa 2.800 Kilometer Luftlinie trennen Wien von Fallujah. Mit dem Flugzeug braucht man für die Strecke knapp acht Stunden. Setzt man sich eine Virtual Reality-Brille auf, dauert es nur wenige Sekunden, bis man sich im irakischen Kriegsgebiet wiederfindet. Dieses preisgekrönte Projekt der „New York Times“ zeigt irakische Streitkräfte, als sie vordrangen, um die Stadt vom „Islamischen Staat“ (IS) zurückzuerobern.
VR: ein neuer Weg
Wir haben uns daran gewöhnt, News und Hintergründe jederzeit und in verschiedenen Formaten zu rezipieren. Text, angereichert mit Grafik, Fotos, Video und Ton. War es das? Mitnichten. Mit Virtual Reality tauchen die RezipientInnen direkt in die Stories ein. Virtual Reality (VR) lässt sich grundsätzlich in allen Bereichen einsetzen, wo mittels 3D und in Folge somit auch in VR etwas visualisiert werden kann, so Schöggl. Laut Steinlechner ist VR in einer in allen Lebensbereichen digitalisierten Welt ein möglicher Schritt, den man gehen könne, aber nicht gehen müsse. Bisher ist die Technik vorrangig aus dem Entertainment- und Gaming-Bereich bekannt und wird in erster Linie mit Computerspielen zur Unterhaltung assoziiert. Auch in der Werbung kam die Technologie bereits zum Einsatz, um KundInnen ein immersives, also „eintauchendes“ Markenerlebnis zu bieten. Im Journalismus haben bereits einige Medienhäuser mit VR experimentiert, und tun es teilweise immer noch. Während in den USA und in Kanada einige Dokus und Spielfilme in VR realisiert wurden, könne sie auch für Reportagen und Magazinbeiträge verwendet werden, wobei es sich für Kurzformate besser eigne, so Steinlechner. Dabei sei VR-Berichterstattung keineswegs eine rein technische Umstellung, sondern auch JournalistInnen müssen neue Erzählweisen erfinden. Da sich der/die Zuseher/in mitten im Ereignis befindet, muss auch sein/ihr Blick anders geleitet werden und das Storytelling sich verändern. Die JournalistInnen können die AnwenderInnen an digitalen Welten nicht nur teilhaben lassen, sondern diese mitten hineinziehen. Das eröffnet bisher ungekannte Formen der Berichterstattung und neue Wege der Informationsvermittlung. Die Ergebnisse einer umfassenden VR-Studie unter dem Titel „Virtual Reality – Utopia oder Dystopia?” (Gallup, 2016) zeigt, dass der Begriff „Virtual Reality“ bereits der Hälfte der ÖsterreicherInnen bekannt ist. Dabei zeigen sich jüngere Menschen durchschnittlich stärker interessiert als ältere. Aus der Studie geht zusätzlich hervor, dass 26% gerne Nachrichten und Reportagen virtuell aufbereitet rezipieren würden.
360°-Videos gelten als die Einstiegstechnologie in die virtuelle Realität. Diese haben den klaren Vorteil, dass sie vergleichsweise relativ kostengünstig produziert werden können und zudem auf alltäglichen technischen Geräten wie Laptop oder Smartphone angeschaut werden. Die benötigten Kameras sind zum Teil schon für wenige Hundert Euro erhältlich und die Einbindung auf Plattformen wie „YouTube“, die dann nicht nur auf dem Smartphone oder PC, sondern ebenso mit VR-Brillen betrachtet werden können, ist simpel. Die Unmittelbarkeit zum Geschehen und die durch VR gesteigerte Immersion bilden ein technisches Mittel zu mehr Mitgefühl. Und entgegen häufig geäußerter Bedenken einer zu realistischen und deshalb manipulativen Darstellung, seien die gestreamten 3D-Inhalte und 360-Grad-Ansichten ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor für die Glaubwürdigkeit, meint Schöggl.
Immersiver Journalismus im virtuellen Wandel
Virtual Reality hat seinen Hype zwar erst in diesem Jahrzehnt erlangt, allerdings starteten die ersten Annäherungen bereits in den 1970er Jahren. Der vom US-amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson begründete Gonzo-Journalismus („gonzo“ = englisch für exzentrisch) trieb die ursprüngliche Idee des teilhabenden Journalismus auf ein neues Level – beziehungsweise pervertierte sie regelrecht. Es stand nun nicht mehr das eigentliche Ereignis oder Thema im Mittelpunkt der Reportage, sondern das übertrieben dargestellte subjektive Erleben des Journalisten, wobei die Grenze zwischen Fakt und Fiktion oftmals fließend war. Heute, fast fünfzig Jahre später, wurde der Begriff des Immersiven Journalismus schon längst technisiert und auf virtuelle Welten übertragen, wodurch er schließlich einen Wandel erfuhr und als Virtual Reality-Journalismus bezeichnet wurde. Abgesehen von der Namensänderung, transformierte sich auch die Rolle des bzw. der Rezipienten/in. Immersion war nun nicht mehr länger nur ein spezieller Schreibstil, sondern zielt danach, den/die bislang passive/n Leser/in in den Fokus zu rücken. Die RezipientInnen tauchen dabei selbst in das Geschehen ein, sie laufen in den Realitäten umher, verändern ihre Perspektive und teilweise verwandeln sie sich in der virtuellen Realität zu ProtagonistInnen, die mit Personen innerhalb des Erzählten interagieren. Die Unmittelbarkeit öffnet eine völlig neue Perspektive und mit ihr auch eine emotionale Nähe, die uns neu fordert. Im Pressewesen ist diese Art der Berichterstattung mittlerweile eine ebenso akzeptierte Herangehensweise an die journalistische Arbeit, die sich gleichzeitig aber noch immer im Prozess der Ausdifferenzierung befindet.
Wie weit ist VR-Journalismus schon gediehen?
Auf globaler Ebene sei man auf den Zug von VR im Journalismus aufgestiegen, doch in Österreich habe man es nahezu vollkommen verpasst, sich diesem Trend anzuschließen. „Man hat sich eher darauf verlassen, diesen Rucksack mit digitalem Storytelling packt uns schon irgendjemand, und wenn wir es für richtig halten, können wir den Rucksack nehmen und uns auf die Reise begeben“, meint Steinlechner. Die VR-Geschichten der „New York Times“ und weiterer globaler Medienhäuser werden von preisgekrönten JournalistInnen erzählt und erscheinen in regelmäßigen Abständen. In Deutschland haben mittlerweile auch ZDF, ARTE und die „Süddeutsche Zeitung“ eigene Mediatheken für ihre VR-Aufnahmen angelegt, um ZuseherInnen besondere Geschichten zu erzählen und sie dabei an Orte zu bringen, an die sie ohne die VR-Technologie niemals gelangt wären. Laut Steinlechner hat vor allem ARTE bis vor ein paar Jahren viel Kapital und Manpower in den eigenen VR-Bereich investiert, um große Projekte zu realisieren, allerdings blieb hier die Euphorie aus. Auf nationaler Ebene hat sich auch der ORF neben der „Wiener Zeitung“ dieser Technik bedient und beim Hahnenkamm-Rennen einen Probeläufer mit 360°-Kameras die Piste runtergeschickt. Das Video sorgte im Netz für großes Aufsehen, weshalb man dieses Format auch auf andere Veranstaltungen, wie etwa das Sommernachtskonzert im Schloss Schönbrunn übertragen hat. Statt der klassisch flachen Video-Bilder bekommen wir dann eine fotorealistische 3D-Umgebung vom Ort der Geschehnisse und können uns dort in einem gewissen Rahmen frei bewegen, so Schöggl. Allerdings stellt Steinlechner fest, dass sich Virtual Reality in den Medienunternehmen nicht unbedingt durchgesetzt habe, obwohl es je nach medialem „push“ auch relativ gut funktioniert hätte, weil es etwas Neues war. Laut Steinlechner seien viele Medienhäuser erst gar nicht auf den VR-Zug aufgesprungen, sondern arbeiten viel mehr in Richtung Plattformjournalismus, wo sich UserInnen ihre Geschichten zusammenbauen können und VR dabei eine mögliche Rolle spielen könne. Schöggl konstatiert, dass die Technologie für viele journalistische Inhalte keinen Sinn machen würde, etwa wenn über ein Geschehnis berichtet werde, das bereits vorbei ist. Aber überall dort, wo JournalistInnen rechtzeitig vor Ort seien, um Geschehnisse live aufzunehmen und in VR zu übertragen, mache diese Technologie sehr wohl Sinn, weil alles dadurch noch „anschaulicher“ und „begreifbarer“ werde, so Schöggl.
Virtual Reality ist erst der Anfang
Obgleich der Einsatz von VR im Journalismus für Medienhäuser mit hohem finanziellen und technischen Aufwand verbunden ist, stellt die Technologie neue Möglichkeiten für das Storytelling dar. Teils sinkende Zeitungsauflagen und dank des Internet zunehmende Alternativen zu etablierten Medien führen zu neuen Herausforderungen, mit neuen Erzählformen und qualitativ hochwertigem Content aus der Masse herauszustechen. Allerdings stelle laut Steinlechner der Einsatz von VR bislang nur experimentellen Charakter und eher eine Ausnahme dar. „Es wird nicht verschwinden, aber es wird in eine Nische rücken“. Zukünftige Projekte werden die Grenzen, möglichen Formate und Erzählweisen erst austesten müssen, bis die Möglichkeiten breite Anwendung fänden. Für Schöggl werde die Einführung von 5G einen großen Sprung in der Technologie ermöglichen, allerdings müsse VR erst den Formfaktor und das Image als großes Hindernis hinter sich lassen. In zwei bis drei Jahren würden wir laut des Experten einen enormen Marktzuwachs erleben, weil bis dahin alle Entwicklungsschritte abgeschlossen sind. Denn erst wenn VR-Brillen ganz ohne Prozessor auskommen, weil das Bild direkt von einem Server gestreamt wird, würden die Brillen dann günstig produzierbar, leicht und handlich sein. Auch die dazugehörige Akku-Technologie werde ständig verbessert, was zusätzlich das Gewicht reduziere, und es gebe bereits große Fortschritte bei KI-gestützter Objekterkennung, so Schöggl. Weiters ist er davon überzeugt, dass Realismus bzw. Immersion der große Mehrwehrt von VR sei und die NutzerInnen ihre eigene Geschichte schreiben würden. Somit sind die ersten Projekte mit 360°-Videos und interaktiven Reportagen womöglich erst ein Vorgeschmack auf die neue Welt des medialen Storytellings. Journalistische Ethik und klassische Sorgfaltsprinzipien müssten aber natürlich auch im VR-Zeitalter gelten.
Von Klaus Ofner