Wenn Lesen nicht selbstverständlich ist 

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Für bildungsbenachteiligte Menschen ist das gesellschaftliche Verständnis oft gering. SUMO geht im Gespräch mit Astrid Klopf-Kellerer, Programmmanagerin der Basisbildung für Jugendliche und Erwachsene an den Wiener Volkshochschulen, und Kathrin Schindele, Abgeordnete des NÖ Landtags und Obfrau des Bildungsausschusses, den Fragen zu den Herausforderungen von funktionalem Analphabetismus für Betroffene, Medien und Politik auf den Grund. 

Lesen bildet die Basis in vielerlei Lebensbereichen – sei es, um sich im Alltag und Beruf selbstständig zurechtzufinden, Formulare auszufüllen oder um einfache Schlüsse zu ziehen, ohne diese Fähigkeit können die gesellschaftlichen Erfordernisse nur schwer erfüllt werden. Im Gegensatz zum bekannteren primären Analphabetismus, welcher den allgemein fehlenden Erwerb der Kenntnisse beschreibt, um zu schreiben, zu lesen oder zu rechnen, bezeichnet der Begriff „Funktionaler Analphabetismus“ den partiellen Verlust bereits erworbener Grundkompetenzen im Lesen und/oder Schreiben. Das österreichische Bildungsministerium, aber auch Kursanbieter verwenden anstelle letzteren Begriffs den Ausdruck „bildungsbenachteiligte Menschen“. Damit einher geht eine erschwerte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dies trifft laut der PIAAC-Studie 2013 (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) auf fast eine Million Menschen in Österreich zu. Folgende Fragen gilt es daher zu beantworten: Wie reagiert die Bildungspolitik auf den Handlungsbedarf? Wie handeln Medien in Bezug auf die Bildungsfrage und welche Rolle kommt ihnen in der Bildungsdiskussion zu? 

Von den Anfängen bis heute 

Anfang der 1990er Jahre wurde das Thema in Österreich erstmals in einem „bottom-up-Prozess“ öffentlich diskutiert. Damals seien die ersten Basisbildungskurse für Erwachsene, die in der Schule nicht ausreichend Lese- und Schreibkompetenzen aufbauen konnten und Schwierigkeiten in Alltag und Berufsleben feststellten, entstanden, beschreibt Astrid Klopf-Kellerer. Das Verständnis für die Angebote für bildungsbenachteilige Erwachsene sei aber noch gering gewesen. „Über all diese Jahre hinweg ist ganz viel Aufbauarbeit passiert“, erzählt Astrid Klopf-Kellerer. Dazu trage das seit 2012 bestehende nationale Förderprogramm der „Initiative Erwachsenbildung, das unter anderem das kostenfreie Besuchen von Kursen ermöglicht, maßgeblich bei. Bezogen auf die mediale Berichterstattung würde das Thema jedoch zu wenig konkretisiert werden: Anstelle von vereinzelten Beiträgen sei die Thematisierung mithilfe von Kampagnen oder Monatsschwerpunkten erforderlich, um es von unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und das Bewusstsein der Allgemeinheit zu schärfen. Gerade der Gesichtspunkt der Stigmatisierung müsse in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt werden, da vielen bildungsbenachteiligten Personen die Inanspruchnahme der Kursangebote durch Scham und Angst vor Diskriminierung schwerfalle. Daher sieht Klopf-Kellerer die Aufgabe der Medien bezogen auf bildungsbenachteiligte Menschen in der Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung. Auch Kathrin Schindele fordert gezielte Lobbyarbeit, um das negativ behaftete Bild, das in der Gesellschaft häufig vorherrschend ist, zu beseitigen. Dabei müsse außerdem das direkte Gespräch mit den Betroffenen gesucht werden. Sie betont ebenfalls, dass die verschiedenen Ursachen und Hintergründe, die das Entstehen eines Bildungsdefizits begünstigen, in der Bildungsdiskussion nicht vorweggelassen werden dürfen. Wie Schindele erläutert, tragen die Medien auch aus demokratiepolitischer Sicht eine große Verantwortung. Daher müssen ausreichend Vergleichsmöglichkeiten „für eine Meinungsbildung, die verschiedene Sichtweisen zulässt“, vorhanden sein. Klopf-Kellerer hebt hervor, dass gerade die Personengruppe, die Schwierigkeiten beim Erfassen von besonders langen oder komplizierten Texten hat, eine Chance zur Erprobung und Verbesserung ihrer Kenntnisse benötigt. Dazu seien nicht nur die offensichtlich geeigneten Mediengattungen Fernsehen und Radio, sondern auch Print und Online angebracht. Ein besonderes Augenmerk müsse hierbei aber daraufgelegt werden, die Inhalte entsprechend aufzubereiten. Mithilfe von Abstracts oder Infokästen, die die wichtigsten Inhalte kurz und knapp wiedergeben, könne man zusätzliche Leseanreize schaffen.  

Eine Herausforderung in Bezug auf die Stigmatisierung liege auch in der korrekten Verwendung von Begrifflichkeiten, merkt Schindele an. Für die Anbieterorganisationen, bekräftigt Klopf-Kellerer, stelle daher das kompetenzorientierte Wording einen wesentlichen Aspekt dar. Anstelle des diskriminierenden Begriffes „funktionaler AnalphabetInnen“ eigne sich der Ausdruck „bildungsbenachteiligte Menschen“ besser, um auf die Bildungsbenachteiligungen in ihrem Lebensumfeld und Basisbildungsbedarfe im Erwachsenenalter aufmerksam zu machen. „Das, denke ich, ist einer der wichtigsten Punkte, wenn man das vermitteln kann auf gesellschaftspolitischen Ebene, dass es nicht das Eigenverschulden ist, sondern dass es Benachteiligungen sind, und dass es ein Aspekt der Persönlichkeit ist“, erklärt Klopf-Kellerer. Sie verweist auch darauf, dass mehr als 60% der betroffenen Menschen berufstätig sind und fest im Leben stehen, entgegen der Diskriminierung, mit der bildungsbenachteiligte Menschen häufig konfrontiert sind. 

Leben mit geringer Literalität  

Die deutsche Studie LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität“ befasst sich mit der Lese- und Schreibkompetenz speziell bezogen auf den Alltag und die soziale Teilhabe von deutschsprachigen 18- bis 64-Jährigen. Gemessen an den sogenannten Alpha-Levels sind ca. 6,2 Mio. Erwachsene bzw. 12,1 % der erwachsenen Bevölkerung (Alpha 1 bis 3) gering literalisiert. Das Ergebnis zeigt gemessen am Anteil der erwachsenen Bevölkerung eine Verminderung um 2,4 Prozentpunkte im Vergleich zur LEO-Studie 2010 (7,5 Mio. Erwachsene). Eine Auswirkung lässt sich beispielsweise bezogen auf die Arbeitssuche erkennen: Rund 13% der gering literalisierten Erwachsenen sind arbeitslos, und von den erwerbstätigen Personen (62,3%) sorgt sich knapp ein Viertel um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes. Daher stellt sich auch die Frage, wie lange dieser Zustand noch wirtschaftlich tragbar ist. „Ich sage ganz ehrlich, wir können uns das jetzt schon nicht mehr leisten“, merkt Schindele an. Vor allem in Hinblick auf die Ungewissheit über das Entstehen neuer Arbeitsfelder seien rasche und nachhaltige Gesellschaftsinvestitionen nötig.  

Einen weiteren Aspekt hebt die Studie beim Thema digitaler Kommunikation hervor: Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung nutzen bildungsbenachteiligte Erwachsene häufiger Sprachnachrichten oder Videotelefonie anstelle von Kurznachrichten. Auch die Kommunikation via E-Mail wird von nur etwas mehr als einem Drittel präferiert. In Bezug auf politische Praktiken lässt sich erkennen, dass die fehlende schriftliche Kompetenz Folgen hat: So informieren sich nur 23,6% über das Nachrichtengeschehen per Zeitung oder Internet, Nachrichtensendungen werden deutlich häufiger konsumiert (61,7%). Gering literalisierte Menschen zeigen laut der Studie zudem weniger ehrenamtliches Engagement (7,1%) im Vergleich zu literalisierten Personen (23,1%). Bezogen auf die Wahlbeteiligung lässt sich erkennen, dass nur 62,2% der Betroffenen vom Wahlrecht Gebrauch nehmen (Gesamtbevölkerung: 87,3%). Eine weitere Herausforderung lässt sich bei der Gesundheitskompetenz erkennen: Beipackzettel von Medikamenten werden nur von 55,8% der Erwachsenen mit Basisbildungsbedarf gelesen, und damit gehen wichtige Informationen zur Dosierung oder Risiken verloren. Zusammenfassend lässt sich also im Vergleich zur LEO-Studie aus 2010 eine leichte Verbesserung erkennen. Dennoch besteht noch großes Verbesserungspotential, vor allem in Bezug auf die Gesamtbevölkerung.  

Bildung als Basis 

Erwachsenenbildung bildet einen Grundpfeiler der Fördermaßnahmen von bildungsbenachteiligten Menschen. Das Konzept der Basisbildung hebt sich laut dem Bundesministerium für Bildung durch eine Erweiterung um demokratische, teilhabende, selbstkritische und kritisch handlungsorientierte Lerndimensionen vom Verständnis der Alphabetisierung im Sinne des Erwerbes der Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeit ab. Laut Klopf-Kellerer stehe insbesondere die direkte Einbindung der KursteilnehmerInnen bei der Erreichung ihrer individuellen Ziele und Bedürfnisse im Vordergrund. Kathrin Schindele betont zudem die Wichtigkeit der verschiedenen Institute wie beispielsweise Volkshochschulen (VHS) oder Wirtschaftsförderinstitut (WIFI), die verschiedenste Erwachsenenbildungsmöglichkeiten anbieten. Bildung sollte für jeden zugänglich sein, so das Credo. Dazu zählt nicht nur der kostenlose Zugang zu Kursen, sondern auch die adäquate Aufteilung der Fördermittel. Schindele hebt außerdem hervor, dass in der Qualität nicht zwischen öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen differenziert werden darf.  

Astrid Klopf-Kellerer kennt durch ihre Arbeit im Programmmanagement der Basisbildung für Jugendliche und Erwachsene und als Fachkoordinatorin der VHS Wien die Herausforderungen, die in der Praxis auftreten. Besonders schwierig sei es, Menschen, die Deutsch als Erstsprache sprechen, mit den Bildungsangeboten zu erreichen. Dazu sollen verstärkte Werbemaßnahmen und Informationsmanagement, aber auch die forcierte Einbindung der betroffenen Personen einen maßgeblichen Beitrag leisten können. Ein großflächiger Ausbau der Kursangebote ist für Schindele unerlässlich, um die breit gefächerte Zielgruppe erreichen zu können. In Bezug auf die in Österreich zugänglichen Angebote merkt Klopf-Kellerer folgendes an: „Meines Erachtens sollte das Angebot gerade speziell in der Basisbildung erweitert werden. Wir erreichen ja nur einen kleinen Teil der Menschen mit unseren Angeboten, und es ist natürlich eine Frage des Budgets.“ Dennoch sei die Wertschätzung und Dankbarkeit der Menschen, die die Basisbildungsangebote beanspruchen, sehr hoch. Kompetenzorientiertes (anstelle von fehlerorientiertem) Arbeiten in Kleingruppen trage dazu maßgeblich bei. Klopf-Kellerer berichtet auch von Gesprächen mit KursbesucherInnen, die im Gegensatz zu den oft negativen Lernerfahrungen in der Schule als Erwachsene erstmals über positive Lernerfahrungen und -erfolge sprechen. Astrid Klopf-Kellerer und Kathrin Schindele sind sich darüber einig, dass es insbesondere lokale Initiativen brauche, die bildungsbenachteiligte Menschen zusammenbringt und gesellschaftlich integriert. 

Einen relevanten Knotenpunkt stellt auch die Schul- und Bildungspolitik dar. Wie Schindele unterstreicht, liege ein erster Schritt darin, sich einzugestehen, dass das Thema Analphabetismus einen hohen Stellenwert im Bildungsdiskurs einnimmt. Dazu brauche es ausreichend Gesprächsmöglichkeiten und Unterstützungssysteme vor allem für die Lehrkräfte, merkt Klopf-Kellerer an. Als Lehrerin sind auch Schindele die Herausforderungen der Praxis nicht unbekannt. Einen relevanten Gesichtspunkt bilden hierbei die Klassengröße und das Lehrpersonal. Sie fordert speziell in der Schuleingangsstufe mindestens zwei PädagogInnen pro Klasse einzusetzen, um eventuelle Defizite schnellstmöglich aufzudecken und bestmöglich zu behandeln. Schindele unterstreicht zudem die individuellen Bedürfnisse der SchülerInnen, auf die mithilfe von Schulsozialarbeit eingegangen werden muss.  

Es soll außerdem ausreichend Personal zur Verfügung gestellt werden, um den expliziten Ursachen von Bildungsbenachteiligung auf den Grund zu gehen und Zielbezug zu erarbeiten. „Das erfordert zeitliche Ressourcen, das erfordert natürlich ein Budget und das erfordert die Expertisen von entsprechend gebildeten Menschen“, untermauert Klopf-Kellerer. Österreichweite Kritik gäbe es dahingehend allerdings an dem aktuellen „Curriculum Basisbildung in der Initiative Erwachsenenbildung“ (2019), das die Expertise der Praxis vorweglässt.  

Ein Stichwort, das häufig in Verbindung mit dem Thema Erwachsenenbildung genannt wird, ist das lebenslange Lernen. Klopf-Kellerer schätzt hierbei die beiden Bereiche Beruf und Medien als wegweisend ein, um die im Interesse liegenden Themen anzusprechen und zur näheren Befassung mit diesen anzustiften. Wie Schindele anmerkt, seien Bemühungen in diese Richtung aus Sicht der ArbeitgeberInnen gerade deshalb erforderlich, um konkurrenzfähig zu bleiben und die MitarbeiterInnen entsprechend aus- und weiterzubilden. „Bildung muss auch den Firmen, muss der Wirtschaft etwas wert sein“, betont Schindele. Das sei wiederum ein Ansporn für ArbeitnehmerInnen, sich stetig zu verbessern. Von politischer Seite seien daher Fördermaßnahmen für diese Ausbildungsformate unerlässlich.  

Jede/r soll die gleiche Chance bekommen 

Sowohl von politischer, als auch medialer Seite besteht noch Handlungsbedarf im Erwachsenenbildungsdiskurs. Einen Hauptaspekt bilden die Sensibilisierung und Lobbyarbeit bezogen auf die Begrifflichkeiten, die soziale Schere und das Verständnis für bildungsbenachteiligte Personen. Das in Österreich bereits weitflächig vorhandene Angebot an Kursen und Initiativen muss allerdings stetig erweitert und verbessert werden. Dazu gilt es, die Betroffenen selbst und die Expertise der Praxis in die Prozesse miteinzubeziehen. „Es geht darum, dass jeder die gleiche Chance hat“, unterstreicht Schindele.  

 Von Julia Allinger