Im Visier des Staates: Wie China die Öffentlichkeit überwacht

China hat in den letzten Jahren weltweit nicht nur durch seinen wirtschaftlichen Aufstieg, sondern auch durch seine fortschrittlichen Überwachungsmaßnahmen für Aufsehen gesorgt. Das Reich der Mitte hat sich zu einem Laboratorium für Überwachungstechnologien entwickelt, die das tägliche Leben der Bürger*innen bis ins Detail kontrollieren. Doch wie reagiert die chinesische Bevölkerung auf die staatliche Überwachung und welche Auswirkungen hat sie auf die Gesellschaft? SUMO besprach diese und andere Fragen mit Christoph Steinhardt, assoziierter Professor am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien

Von FELIX PTACEK

Unter ständiger Beobachtung 

Ein zentraler Aspekt des Überwachungssystems in China ist das „Social Credit System“. Human Rights Watch berichtet, dass es vor etwa einem Jahrzehnt eingeführt wurde und seitdem eine rasante Entwicklung erlebt habe. Ursprünglich als Instrument zur Bewertung von wirtschaftlicher Kreditwürdigkeit gedacht, habe es sich zu einem umfassenden sozialen Bewertungssystem entwickelt. Es bewerte das Verhalten der Bürger*innen anhand einer Reihe von Kriterien, darunter finanzielle Verlässlichkeit, Einhaltung von Verkehrsvorschriften und politische Loyalität. Basierend auf diesen Bewertungen erhielten die Menschen einen „Sozialkreditwert“, der ihre Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten Dienstleistungen und Privilegien beeinflusse. Belohnungen umfassen beispielsweise einen einfacheren Zugang zu Krediten oder Steuervergünstigungen, während ein schlechter Score den Zugang zu Privatschulen verwehre oder zum Ausschluss vom Kauf von Flug- oder Zugtickets führen kann. Von der unpünktlichen Zahlung von Unterhaltszahlungen bis hin zur Interaktion mit falschen, weil niedrig bepunkteten Menschen in Sozialen Medien – schlechtes Verhalten würde mit Punkteabzug bewertet und in einem zentralisierten System gespeichert. Hierbei kämen miteinander verbundene Datenbanken und audiovisuelle Systeme zum Einsatz, die mit Big-Data-Analysetechniken und künstlicher Intelligenz kombiniert werden würden. Anna Marti, Asien Expertin der Friedrich Naumann Stiftung, gibt in einer Analyse zu bedenken, dass auch Fehler des Systems nicht beeinsprucht werden könnten und der Rechtsstaat sich damit zurückentwickle.  

Auch Christoph Steinhardt von der Universität Wien beschreibt China als ein System der Regierungsführung, in der diese versucht, über das Sammeln von Informationen Reputationen zu erstellen und somit das Verhalten der Bürger*innen in bestimmte Richtungen zu lenken. „Die ursprüngliche Idee des sozialen Kreditsystems in China war es, Informationen über das Verhalten von Individuen, Organisationen und Firmen zu sammeln, um daraus eine Reputation zu erstellen. Diese Reputation misst, wie gut man sich an bestimmte Verhaltensstandards hält. Es gibt unterschiedliche Implementierungen, wie ein Punktesystem von 0 bis 100 und Listen, bei denen die Besten auf die rote und die Schlechtesten auf die schwarze Liste kommen.“ 

Das Sozialkreditsystem im Alltag der Chines*innen 

Doch welche Rolle spielt das Social Credit System im Alltag der Chines*innen? Steinhardt zufolge eine sehr geringe. Viele Menschen seien sich seiner Existenz nicht einmal richtig bewusst oder verstünden es falsch, würde man sie danach fragen. „Es gibt jedoch Berührungspunkte, wie zum Beispiel Durchsagen in Zügen, die Fahrgäste daran erinnern, dass Verstöße wie Rauchen oder Fahren ohne Ticket in ihrem Kreditportfolio vermerkt werden könnten. Zudem ist das Sozialkreditsystem nur in Teilen landesweit implementiert und es gibt eine hohe lokale Variation.“ Laut Steinhardt würde dieses System bislang am stärksten auf Unternehmen angewendet, wo es um Compliance-Fragen geht, wie zum Beispiel die rechtzeitige Zahlung von Steuern oder die Einhaltung von Hygienevorschriften. Unternehmen, die gegen diese Vorschriften verstoßen, können auf Listen landen und stärker überprüft werden. 

Stimmungslage – zwischen Zensur und Akzeptanz 

„Wir haben Hinweise dafür gefunden, dass Kritik am Datenschutzregime des Staates gelöscht wird.“ 

In Europa sind der Datenschutz und die Privatsphäre durch Gesetze wie die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) stark geschützt. Überwachungsmaßnahmen müssen strenge Kriterien erfüllen, was oft zu einer kritischeren Haltung gegenüber staatlicher Überwachung führt. „Der chinesische Staat ist sehr datenhungrig und es gibt viel weniger Restriktionen für staatliche Überwachung, als es in einem demokratischen System der Fall ist“, erklärt China-Experte Steinhardt. Interessanterweise versucht sich der chinesische Staat laut Steinhardt mit einigem Erfolg als Beschützer der Privatsphäre zu positionieren. Im Jahr 2021 verabschiedete der chinesische Volkskongress ein umfassendes Datenschutz-Gesetz. Die Bedrohung der Privatsphäre, die von Kriminellen und anderen Internetnutzer*innen ausgehe, würde so Steinhardt inzwischen massiv in der staatlichen Propaganda betont. In Umfragen zeigen sich Bürger*innen viel besorgter über Datensammlung von Firmen als über solche vom Staat.  

Wie sieht es mit Kritik an diesem System in den sozialen Medien aus? Christoph Steinhardt und sein Team haben Weibo, eine Social-Media-Plattform vergleichbar mit X (ehemals Twitter), untersucht. Er gibt zu bedenken, dass bestimmte kritische Inhalte möglicherweise von Nutzer*innen aus Angst vor Zensur gar nicht erst gepostet werden. Pilotanalysen deuten darauf hin, dass Kritik am staatlichen Datenschutzregime recht wenig vorkommt und gelöscht wird. Bei Posts zum sozialen Kreditsystem wurde ebenfalls festgestellt, dass kritische Beiträge selten seien und oft gelöscht würden, oft nachdem sie viel Aufmerksamkeit erregt hätten. Auf der anderen Seite hätten insbesondere chinesische Wissenschaftler*innen Aspekte des sozialen Kreditsystems kritisiert und sich auch kritisch über überbordende Datensammlung geäußert. Insgesamt habe das Thema Privatsphäre auch in China massiv an Bedeutung gewonnen. Der Staat versuche dieses Thema zu managen und sich selbst, so gut es geht, aus der Schusslinie zu nehmen.  

Wohin geht die Reise? 

Auf die Frage, wie es mit der Überwachung bzw. dem Sozialkreditsystem in Zukunft weitergehen könnte, meint Christoph Steinhardt: „Es scheint, dass die Luft ein bisschen draußen ist, aber es wird wahrscheinlich nicht komplett verschwinden. Ein zugrundeliegendes Problem ist die in China weitverbreitete Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Vertrauenskrise, geprägt von Betrug und unmoralischem Verhalten. Der Staat wird als verantwortlich für die Lösung dieser Probleme gesehen, was in der politischen Kultur Chinas verwurzelt ist. Diese gesellschaftliche Diskussion, die es bereits vor dem Kreditsystem gab, fördert die Idee, dass ein starkes staatliches Eingreifen notwendig ist, um die Gesellschaft zu regulieren. Diese Debatte wird wohl weiterbestehen und vom Staat unterstützt werden, da sie die Notwendigkeit eines starken Staatsapparats untermauert.“ 

Chinas Überwachungssysteme werfen viele Fragen über die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit auf. Während der Staat behauptet, die Gesellschaft zu schützen, befürchten Kritiker*innen einen massiven Eingriff in die Privatsphäre und die individuelle Freiheit. Die Zukunft dieser Systeme bleibt ungewiss, doch eines ist sicher: Die Diskussion über die richtige Balance wird weitergehen. 

Felix Ptacek | Copyright: Max Peternell