Journalismus heute: Alles geklaut und gelogen?

Copyright kengmerry

Immer öfter kommt ans Tageslicht, dass JournalistInnen Inhalte frei erfinden oder gar klauen.

SUMO sprach mit Stefan Schoeller, Rechtsanwalt für Medien- und Urheberrecht, sowie mit Benjamin Fredrich, Chefredakteur des deutschen populärwissenschaftlichen Magazins „Katapult“, über diese Entwicklung und versucht Licht ins Dunkel zu bringen.

Es ist der 3. Dezember 2018, 03:05 Uhr. Der digitale Postkasten von Claas Relotius gibt einen Benachrichtigungston von sich: eine neue Mail. Die Pressebeauftragte einer Bürgerwehr in Arizona fragt, wie Relotius eine Reportage über ihre Gruppe und ihre Situation schreiben konnte, ohne je für ein Interview vorbeigekommen zu sein? Der Anfang vom Ende – Claas Relotius hat den Bogen überspannt. Am 17. Dezember reicht vielfach ausgezeichnete Reporter beim „Spiegel“ seine Kündigung ein. Am 19. Dezember geht der „Spiegel“ an die Öffentlichkeit. Relotius Texte – großteils gefälscht. Die Reportage – in der Kritik.

Der Journalismus in einer Krise

Claas Relotius hat den deutschsprachigen Journalismus endgültig in eine Krise gezogen. Nicht nur die Reportage selbst steht, aufgrund ihrer besonderen Anfälligkeit für fiktive Ergänzungen, besonders in der Kritik, der gesamte Journalismus ist in eine Krise geschlittert. Ein Fall wie dieser rüttelt an den Grundsätzen des Journalismus. An der Wahrhaftigkeit, an der journalistischen Sorgfalt. Die strukturellen Probleme mögen nicht so ausgeprägt sein, wie es der Fall Relotius impliziert, hingegen sind sie weitreichender als oft angenommen. Copy and Paste, Abschreiben, Plagiieren. Ungern wird darüber gesprochen, dennoch sind dies grundsätzliche Probleme im heutigen Journalismus. In einem Journalismus, welcher von Zeitdruck und Clickbaiting unterwandert wurde. Die Frage ist, woher rührt dieser Trend? Fredrich unterstreicht in seinem Interview, dass dies unter anderem dem steigenden Druck auf die Zeitungen geschuldet ist. Bringt eine Zeitung eine Story, so fühlen alle anderen den Drang diese auch drucken zu müssen. Dennoch spiegele sich dieser Trend eher bei regionalen Zeitungen wider – sie müssen unter enormem Zeitdruck arbeiten und haben weitläufig Personalmangel. So passiere es schnell, dass eine Meldung ident übernommen oder maximal der Satzbau leicht verändert werde. Genau dort lässt sich das strukturelle Problem erkennen: steigender Druck, einerseits durch Konkurrenz, andererseits durch einen schnell verfallenden Nachrichtenwert, sowie ein Mangel an – kompetentem – Personal. Die „Neue Züricher Zeitung“ erklärt im September 2014, dass Nachrichtendienste aufgrund einer endlos ausufernden Informationswelt besonders unter Druck stünden, dass es jedoch der falsche Weg wäre, den ambitionierten, hochwertigen Journalismus zu vernachlässigen. Leider lässt sich genau dies vielerorts beobachten. Obwohl profilierte Recherche an Relevanz und neuer Bedeutung gewinnt, im Gegensatz zu beinahe identen Artikeln, welche auf zehn unterschiedlichen Nachrichtenportalen zu lesen sind.

Eine rechtliche Machtlosigkeit

Es lässt sich folglich kaum anzweifeln: Ideen werden im Journalismus ohne weitere Recherche übernommen. Eine Studie von „news aktuell“ hat 2017 erhoben, dass das Übernehmen von Inhalten anderer Medien, sowie von Unternehmen bzw. PR-Agenturen, zu den größten Fehlern gehört, welche JournalistInnen heute begehen. Dennoch wird es gemacht. Da stellt sich die Frage: Warum unternimmt niemand etwas dagegen? Schoeller erklärt im Interview, dass hier geklärt werden müsse, ob es sich um ein Werk im Sinne des Urheberrechtsgesetzes handle. Dieses umfasst geistige und eigentümliche Schöpfungen auf dem Gebiet der Literatur, bildenden Kunst, Ton- und Filmkunst. Banale Arbeiten, wie etwa kurze Nachrichten, stellen laut ihm in diesem Sinne hingegen kein Werk im Sinne des Urheberrechts dar. Dies zeigt folglich, dass Inhalte erst dann geschützt sind, wenn sie eine eigentümliche Schöpfung darstellen. Eine Idee bzw. ein Inhalt selbst sind somit urheberrechtlich nicht geschützt, weil sie „keine konkrete Ausformung und Niederlegung haben“. Für Rechtsanwalt Schoeller ist die Situation klar: „Eine Gesellschaft funktioniert grundsätzlich nur, wenn in irgendeiner Form eine Weiterentwicklung zugänglich ist. Eine Weiterentwicklung findet nur statt, wenn auf dem momentanen Stand des Wissens aufgebaut werden kann.“ Somit sind Ideen nicht geschützt, um diese gesellschaftliche Weiterentwicklung zu gewährleisten. Benjamin Fredrich sieht das teilweise problematisch: „Bei Ideen und Konzepten ist das schwer. Wenn da jemand in Einzelfällen etwas macht, kann man tatsächlich nur zusehen. Da kann man nur warten und schauen, was die machen.“ Allerdings ist entscheidend, dass es rechtliche Möglichkeiten gibt, sobald es zur wiederholten, systematischen Übernahme von Inhalten kommt. Schoeller und Fredrich sind sich hier einig: „Wenn das häufiger passiert und man eine Systematik dahinter erkennt, dann kann man vom Urheberrecht weggehen und ins Wettbewerbsrecht gehen. Hier gibt es schon ein paar Spielregeln, so verstößt eine systematische Ausbeutung einer anderen Redaktion gegen diese Spielregeln“, so Fredrich im Interview. Schoeller stimmt zu: „Man spricht dann von einem Konglomerat an Einzelfällen. Wenn hier geschickt einzelne ungeschützte Elemente übernommen werden, wird, ab einer gewissen Intensität, das Wettbewerbsrecht verletzt.“ So gesehen ist eine Idee, ein Konzept, selbst ungeschützt und frei verwertbar. Erst durch eine konkrete Ausformung, durch das Erreichen des Schöpfungswertes, greift das Urheberrecht. Es sei denn, es findet eine systematische Ausbeutung eines anderen statt, dann eröffnet das Wettbewerbsrecht neue Möglichkeiten.

Alles kopiert und geklaut?

Im Folgenden hat SUMO einen konkreten Fall einer möglichen Rechtsverletzung betrachtet. Gemeinsam mit dem Verlag Hoffmann und Campe hat „Katapult“ ein Buch über „Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern“ verlegt. Die Idee, redaktionelle und kreative Arbeit, wie auch grafische Aufbereitung und Layouting lagen hier bei „Katapult“. Nach Veröffentlichung des Buches gab es allerdings Differenzen zwischen Verlag und Redaktion und das Magazin „Katapult“ entschloss sich, ein ursprünglich geplantes zweites Buch nicht mit Hoffmann und Campe zu verlegen. Die Überraschung kam, als der Verlag die Fortsetzung des Buches angekündigt hatte – ohne „Katapult“, stattdessen mit AutorInnen der „ZEIT“. Für Chefredakteur Fredrich unerwartet, jedoch müsse man das so hinnehmen: „Wenn sie das Buch nun mit der ‚ZEIT‘, im Stil der ‚ZEIT‘, machen, dann ist das okay.“ „Katapult“ erlitt jedoch einen Schock, als bekannt wurde, dass sowohl Titel als auch zahlreiche Inhalte übernommen wurden. Für das Magazin keine leichte Situation. Der Titel musste zwar nach einer Unterlassungserklärung verändert werden, doch bezüglich der Inhalte und des Aufbaus ist die Lage komplizierter. Medienrechtsexperte Schoeller weist hier wieder darauf hin, dass zu untersuchen sei, ob ein Ausbeuten fremder Leistung stattfinde: „Wenn die Gesamtbetrachtung ergibt, dass hier so viele Elemente schmarotzerisch übernommen wurde, dass es ein wettbewerbsrechtliches Thema wird, so kann eine Klage Erfolg haben. Wenn die Gesamtbetrachtung allerdings ergibt, dass nur ungeschützte Elemente übernommen wurden, die es in ähnlicher Art und Weise schon gegeben hat, ist das aus rechtlicher Sicht in Ordnung.“ Für „Katapult“ galt es also zu entscheiden, eine Klage mit unsicherem Ausgang und möglicherweise enormen Kosten zu wagen oder den Vorgang öffentlich wirksam zu machen. Wie Benjamin Fredrich erzählt, war das keine leichte Abwägung, doch die Entscheidung, das gesamte Geschehen an die Öffentlichkeit zu bringen, sei im Nachhinein die richtige gewesen. Es tue ihm auch heute noch weh, wenn er daran denkt. Doch fest steht, dass dem Magazin dieser Vorfall zu enormem Wachstum verholfen hat und das hätte kein Gericht erwirken können. Folglich lässt sich festhalten, dass es schwierig ist, das Übernehmen von Inhalten oder Ideen zu unterbinden. Doch gerade das Magazin „Katapult“ hat der Verlagsbranche und dem Journalismus gezeigt, dass man durch ein medienwirksames Auftreten und eine ausgeklügelte PR-Strategie aus einer Misere stärker hervortreten kann.

Folgen für eine ganze Branche

Die Krise nach dem Auffliegen der Affäre Claas Relotius war weitaus schwächer als befürchtet, jedenfalls für den Journalismus als Ganzes. Die Reportage aber gilt nach wie vor als problembehaftet. Auch wenn Aufklärungsarbeit geleistet wurde, wenn neue Systeme zu Verifikation eingeführt wurden, bleibt die Kritik bestehen. Selbst Diskussionen, welche aufgezeigt haben, dass sich das Problem Relotius auf den gesamten Journalismus umlegen lässt, blieben beinahe ohne Folgen. Verschiedene kritische Medienhäuser beschäftigen sich jedoch weiterhin mit der Thematik und versuchen dem Trend des Copy and Paste-Journalismus auf den Grund zu gehen. By the way: Franziska Wenger, Redakteurin von SUMO’s Online-Schwesternmagazin „sumomag.at“ untersucht, passend zur Causa Relotius, die Gründe, warum JournalistInnen dazu verleitet werden Artikel zu fälschen.

von Matthias Schnabel

Benjamin Fredrich ©Katapult

Stefan Schoeller ©Daniela Jakob