Tinder: Jeder hat es, keiner sagt es

Eigene Screenshots aus App (Personen anonymisiert)

Das Tinder-Phänomen: Weltweit sind rund 50 Millionen Menschen bei der Dating-App registriert, in Österreich somit rund eine halbe Million. Dennoch prägen Vorurteile das Bild vom Online-Dating. Wer tindert ist einsam, wer tindert ist nur auf Sex aus, wer tindert achtet nur auf das Äußerliche.

Felix (Name geändert) ist seit zwei Jahren bei Tinder registriert. Einen wirklichen Grund für die damalige Entscheidung, sich die App runterzuladen, kann er nicht nennen. „Wahrscheinlich aus Unterhaltungszwecken“, meint er. Seitdem nutzt er Tinder phasenweise, hatte einige Treffen mit Userinnen und eine Beziehung, die sich daraus ergab. Seinen Freunden verschwieg er nie bewusst auf Tinder aktiv zu sein, sprach das Thema aber nie an. Auch Leonie (Name geändert), die seit mehreren Jahren die App nutzt meint, sie schämt sich, denn: „Andere könnten denken, ich brauche Tinder um Männer kennenzulernen“. Dennoch ist es in Zeiten, in denen wir online neue Bekanntschaften machen und unsere Freundschaften über das Internet pflegen, häufig immer noch verrufen online zu daten.

Zahlen & Fakten
Weltweit nutzen 10 Millionen Personen die Dating-App Tinder. 26 Millionen „Matches“ erfolgen täglich – zwei User finden also gegenseitig an sich Gefallen. Diese täglichen Nutzer verbringen rund 35 Minuten am Tag mit „swipen“ und „matchen“ – da das Betrachten eines Profils und das anschließende nach links oder rechts Wischen nur einige Sekunden beansprucht, ergeben sich daraus insgesamt 16 Milliarden Swipes pro Tag.

Laut einer Studie von singleboerse.at sind mehr als 75% der österreichischen männlichen Online-Dater jünger als 35 Jahre alt, die Hälfte der Frauen sind zwischen 25 und 34 Jahren alt.
Das Marktforschungsinstitut „GlobalWebIndex“ fand 2015 heraus, dass ca. die Hälfe aller Tinder-User Single sind. Von den übrigen befanden sich 12% in einer Beziehung, während die restlichen verheiratet waren.

Der Homo oeconomicus
An dieser Stelle kann nach den Bedürfnissen der Online-Dater geforscht werden. Rund die Hälfte aller Tinder-Nutzer sind in einer Beziehung, was bedeutet, dass nicht aller User der App Single sind, diese aber trotzdem zu Dating-Zwecken nutzen. Das Unternehmen selbst wirft an dieser Stelle ein, viele Nutzer sind ganz einfach nur auf der Suche nach einer platonischen Freundschaft. An dieser Stelle sollte jedoch die Möglichkeit erwähnt werden, dass das „Match“ nur in der virtuellen Welt erfolgt und sich zwei User nicht zu einer Verabredung treffen müssen.
1976 schrieb der US-amerikanischer Ökonom Gary Becker in „Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens“ über das Bedürfnis nach Nutzungsoptimierung eines Menschen. Er ging davon aus, Entscheidungen werden vernünftig getroffen. Es wird zwischen Alternativen abwogen und anschließend jene Möglichkeit gewählt, die dem Individuum den größten Nutzen beziehungsweise die größte Befriedigung mit sich bringt. Becker schreibt für den Tinder-Kontext:

„Alles menschliche Verhalten kann vielmehr so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Information und anderen Faktoren schaffen.“

Beachtet man diese Ausgangspunkte im Bezug auf die Partnersuche und -wahl, so lässt sich feststellen, dass Dating-Apps den Nutzen maximieren können. User bekommen eine Auswahl von Millionen Profilen geboten während sie sich an jedem beliebigen Ort befinden können, wodurch die Chancen einen passenden Partner zu finden deutlich höher sind als in der realen Welt. Nüchtern gesehen ist Tinder also einfach ein Tool für den Homo oeconomicus um seinen Nutzen maximieren zu können und somit sein Bedürfnis danach stillen zu können. Ob es dann wirklich zu einer leibhaftigen Beziehung kommt, hängt jedoch wieder mehr von den Wirkungen des homo sociologicus ab, vorausgesetzt, es treffen nicht zwei Menschen aufeinander die dem Konzept des homo ludens zuzurechnen sind.

Geht man von dieser ökonomischen Theorie aus, gäbe es somit gar keine Rechtfertigung für den schlechten Ruf von Dating-Apps. Jedoch handelt es sich bei dem Homo oeconomicus um ein schlichtes Modell, das von der Realität abweicht. Das ausschlaggebende Argument für Online-Dating – Emotionen nehmen einen großen Einfluss – ist jenes, dass Menschen nicht immer durchgehend rational handeln. Das Modell begründet somit zwar den Nutzen von Dating-Apps, erklärt den ganzen Menschen aber nicht.

Sowohl Felix als auch Leonie finden die Dating-App „einfach praktisch“, laut den beiden vereinfacht sie die Suche. Die Suche wonach genau, stellt sich hier die Frage. „Wenn ich sage ich bin auf Tinder weil ich neue Leute kennenlernen will, dann ist das okay für alle“, meint Leonie, „aber wenn ich sage ich suche hin und wieder nach One-Night-Stands dann schauen mich meine Freunde komisch an“.
Weshalb Tinder und Co in unserer Gesellschaft also immer noch verrufen sind, bleibt hier ungeklärt. Außer Frage steht jedoch die Berechtigung der Dating-Apps für den Erfolg im Beziehungsmanagement: Es ist einfacher, chancenreicher und bequemer.

Über die Autorinnen

Chiara Sergi studiert im Bachelorstudiengang „Medienmanagement“ an der FH St. Pölten. Sie ist Teilnehmerin des Praxislabors „Online“ und schrieb in der Vergangenheit für das Fachmagazin des Studiengangs „SUMO“.

Viola Schmied ist Studentin an der FH St. Pölten des Bachelorstudiengang „Medienmanagement“. Sie hat als Praxislabor zur Vertiefung „Online“ gewählt und im Rahmen verschiedener Vorlesungen journalistisch gearbeitet. 

Copyright: Chiara Sergi

 

Copyright: Viola Schmied

 

 

Artikel verfasst im Sommersemester 2018.