Sind Castingshows Ratgeber in puncto Entwicklung eigener Persönlichkeit oder Selbstwahrnehmung? Oder dienen sie der Identifikation mit falschen Idealen? Zu diesen und anderen Fragen interviewte SUMO Kinder, Jugendliche und Eltern.
Castingshows sind ein gängiges Format in der internationalen Fernsehlandschaft, werden national und zielgruppengerecht adaptiert und dehnen den Begriff des „Talents“ weit aus. Casting per se meint das Besetzen einer Rolle – auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen hin in doppeldeutiger Hinsicht. Sie erleben die Gesang-, Tanz- und Schönheitstalente als Rollenmodelle von: „So will ich auch sein“ über parasoziale Interaktion bis zum Imperativ „So muss ich sein“. Und das Modell steckt bereits im Begriff.
„Germany’s Next Topmodel“ (GNTM) ist die deutsche Ausgabe von „America’s next Topmodel“, auf „ProSieben“ ausgestrahlt erzielte sie in Deutschland 2018 einen durchschnittlichen Marktanteil von rund 17% (14-49 Jahre) bzw. 8% (ab 3 Jahren). Vor Beginn der Show werden aus Tausenden Bewerberinnen 50 Kandidatinnen ausgewählt, die Episode für Episode Fotoshootings und ‚Herausforderungen‘ meistern, die Siegerin erhält einen Modelvertrag.
Hilfe – wer bin ich?
Laut der aktuellen BRD-Studie 2018 für Jugendliche, Internet und Medien (JIM 2018) schauen immer noch 73% der zwölf bis 19-jährigen täglich oder mehrmals in der Woche fern. Drei Viertel der Jugendlichen messen Fernsehen eine wichtige Rolle neben Smartphone- und Internetnutzung bei. Vergleicht man mit der aktuellen Kinder, Internet und Medien-Studie (KIM 2016), erkennt man kaum einen Unterschied. Das Fernsehen nimmt hier den ersten Platz unter den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen ein, 77% der sechs bis 13-jährigen schauen täglich fern. Insbesondere das Thema Mode wird vor allem für Mädchen ab dem 10. Lebensjahr interessanter, der Konnex zwischen früher einsetzender (Prä-)Pubertät und Mediennutzung ist durch viele Studien bewiesen. Dies wissen auch die Produzenten von GNTM und „Austria’s Next Topmodel“ (ANTM). Mädchen, die auf den Weg in die Pubertät sind und sich beginnen zu fragen „Wer bin ich?“ erhalten einerseits Inspiration, andererseits auch Druck – etwa dem ihres Umfelds, sich solchen Shows auszusetzen. Das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) erfasste anno 2018 Grunddaten für Kinder und Medien. 15% der befragten Mädchen zwischen zehn und zwölf Jahren gaben GNTM als ihre beliebteste Sendung an, Platz 2 der Top 5-Lieblingsserien.
Kinder und Jugendliche klären auf
Eine Kleinstadt in Niederösterreich, es ist Dienstagabend. Eine Familie hat sich bereit erklärt, über das Thema „Castingshows und Kinder“ zu sprechen. „Bei ‚Germany’s Next Topmodel‘ sind ältere Mädchen, die schöne Kleider tragen, auf dem Laufsteg laufen und Fotos machen“, erklärt die zehnjährige Sophie* auf die Frage, wie sie die TV-Sendung beschreiben würde. Bis jetzt habe sie erst zwei Staffeln der Erfolgsserie zusammen mit ihrer Freundin gesehen, jedoch nicht regelmäßig. Ausgestrahlt wird die Sendung erst ab 20:15, die geregelte Schlafenszeit auch ob des nächsttägigen Schulbeginns mache ihr oft einen Strich durch die Rechnung. Bereits während der – deshalb bevorzugt gemeinsamen – Rezeption unterhalte sich Sophie mit ihrer Freundin darüber, in der Schule dann reden meist nur die Freundinnen des jeweiligen Freundeskreises miteinander über die Show. An dieser begeistern sie besonders die teilweise so aufwendigen Frisuren und das „wunderschöne Make-Up“. Nach einem schelmischen Grinsen erzählte sie, dass ihre beste Freundin und sie sich gerne schminken und Kleider anziehen, um so zu tun, als wären sie selbst Models. Sophies Mutter erlaubt ihrer Tochter das Anschauen der Serie. Ob sie denn an ihrer Tochter Veränderungen wahrnehme? Sie verneint, weder Entwicklungs- noch Verhaltensveränderungen treten bei ihrer Tochter auf. Jedoch steige das Bedürfnis nach dem Schminken und sie stelle öfters ihr eigenes Ich in Frage. Der Beruf Model wäre schon toll, gab Sophie zu, aber an der Show teilzunehmen komme für sie nicht in Frage.
Im 15. Wiener Bezirk nahe der Mariahilferstraße wohnt eine weitere Familie, die sich den Fragen stellt. Die 16-jährige Anna* beschreibt GNTM als Castingshow für junge Mädchen, die durch das Meistern bestimmter Shootings, Challenges und Laufstegtrainings in die nächste Runde aufsteigen. Sie rezipiert die Show seit der 7. Staffel regelmäßig, also begann auch sie mit dem Alter von zehn Jahren. Im Unterschied zur Hauptschülerin Sophie beschäftige Anna das Thema Aussehen nicht mehr, sie erwische sich jedoch oft bei dem Gedanken, zu dick zu sein. Dennoch halte sie das nicht von einer weiteren GNTM-Rezeption ab. Ihr Grund für diese weist wiederum Differenzen zu der Niederösterreicherin auf, die Reisen und unterschiedliche Orte begeistern die 16-jährige. Ihre Mutter beantwortet die Frage, ob sie Bedenken bei dieser Serie habe, mit einem gut österreichischen „Jein“. Heidi Klums Kritik sei ihr oft zu streng gegenüber den noch nicht mal erwachsenen Mädchen, dennoch sehe sie keine negativen Auswirkungen auf das Verhalten oder die Entwicklung ihrer Tochter.
„Austria’s Next Topmodel – Boys & girls“
Die österreichische Ausgabe „Austria’s Next Topmodel“ hat dasselbe Konzept. Übernommen zuerst von der ersten GNTM-Gewinnerin Lena Gercke, danach Melanie Scheriau und in neuem Design von Eveline Hall moderiert, erhält es gute Quoten. ANTM unterscheidet sich vom deutschen Format durch den Wechsel der Moderatorinnen und durch eine andere Vermarktung. Die größte Veränderung fand 2014 in der 6. Staffel statt, ab sofort durften auch Männer am Casting teilnehmen. Die TV-Sendung erhielt daher den neuen Titel „Austria‘s Next Topmodel – Boys & Girls“. Das österreichische Format etablierte sich als die sechste Version weltweit mit zwei Geschlechtern als KandidatInnen. Unter der Leitung von Eveline Hall erhielt die Show 2017 nochmals eine Erneuerung mit dem Motto „Be a Brand“: Die KandidatInnen müssen sich selbst als Marke präsentieren, somit tritt die eigene Persönlichkeit in den Vordergrund und es geht nicht mehr rein um das Aufweisen der idealtypischen Modelmaße.
Zu guter Letzt – raus ins Leben
Nach den Gesprächen mit Eltern, Kind und Jugendlicher steht fest: Castingshows wie „Germany’s Next Topmodel“ oder „Austria’s Next Topmodel“ stehen lange nicht so im Zentrum der Aufmerksamkeit wie andere Fernsehsendungen. Der größte Teil der von SUMO Interviewten hatte zuvor noch nicht über die Thematik nachgedacht, und das, obwohl Kinder in den Fokus von Castingshows rücken. Sucht man nach Problemen und Gefahren, die von Castingshows ausgehen, kommt man zur Erkenntnis, dass sie im öffentlichen Geschehen der Gesellschaft kaum präsent sind. Warum sich diesen kaum jemand abseits der Wissenschaft annimmt, bleibt ein Rätsel. In Österreich bleibt der Hype um GNTM und ANTM aufgrund der sich stetig „erneuernden“ Zuseherschaft – Kinder und Jugendliche – konstant. Mädchen sehnen sich zwar nach dieser zurechtgetrimmten Ideal-Schönheit, aber verstehen, dass diese im Leben nicht das einzige Ziel ist. Mit Vorstellungen und Bildern ein eigenes Selbst zu formen, ist per nichts Schlechtes – schließlich konstatierte der kanadische Soziologie Erving Goffman bereits vor 60 Jahren: „Wir alle spielen Theater“.
*Namen redaktionell geändert
Von Sabrina Bichler