Die Welt der Kurzvideos – Sind Vorschulkinder reizüberflutet?

Schrille und knallige Animationen, schnelle Schnitte und sehr lebhafte Musik – Kurzvideos auf Plattformen wie YouTube oder TikTok, besonders YouTube Shorts, üben eine starke Anziehungskraft auf Kinder im Vorschulalter aus. Doch welche Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung können festgestellt werden? SUMO interviewte dafür Anna Verena Schmid, Klinische Psychologin in Mödling, die Medienpädagogin Corinna Schaffranek aus Mainz und vier Mütter mit Kindern im Vorschulalter. 

Von JULIA SCHUSTER

Es ist ein typischer Nachmittag. Während ein Elternteil versucht, das Abendessen vorzubereiten, sitzt das Kleinkind im Wohnzimmer und starrt gebannt auf ein Smartphone. Mit einem Fingerwischen erscheinen bunte, lustige Kurzvideos auf YouTube Kids oder auch TikTok, die das Vorschulkind beschäftigen. Als Beobachterin fragt man sich: Wie beeinflussen diese schnellen, reizüberflutenden Medien die jungen Gehirne von Vorschulkindern? Schließlich kommen Kinder immer früher in Kontakt mit sozialen Medien wie TikTok oder YouTube. Die Zahlen aus der oberösterreichischen Kinder Medienstudie aus dem Jahre 2022, in welcher das Medienverhalten von Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren untersucht wurde, belegen, dass ¾ der Kinder eines oder mehrere der elektronischen Geräte besitzen, um Medien zu rezipieren oder auf das Internet zuzugreifen (Education Group GmbH, 2022). Dadurch wird es für sie auch immer einfacher, Online-Plattformen zu entdecken und auf Kurzvideos zu stoßen. Und es gibt ausreichend Angebot für diese Nachfrage: Die Kategorie YouTube Shorts hat beispielsweise eine ähnliche Funktion wie TikTok. Sie besteht hauptsächlich aus Videos, die nur eine Minute oder sogar nur wenige Sekunden lang sind.  

Warum sind Medien so ansprechend für Kinder? 

Es gibt eine Studie, die sich unter anderem mit der Frage beschäftigt, welche Elemente in Fernsehsendungen auf Kinder besonders ansprechend wirken. Lebhafte Musik, Applaus und Geräusche von Babys ziehen beispielsweise die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich.  Auch werden Frauenstimmen im Vergleich zu Männerstimmen von ihnen favorisiert. Visuelle, aufmerksamkeitsgewinnende Momente sind beispielsweise Kinder, Tiere, Essen, Süßigkeiten, Buchstaben, Zahlen, Spielsachen, die Darstellung von Zuneigung und Liebkosung, Slapstick-Humor, aber auch ästhetische Aspekte wie kräftige Farben und besondere Kameraeinstellungen. Ich habe das Gefühl, dass einige Kindersendungen heutzutage schriller und knalliger sind als früher. Meine Hypothese hierzu wäre, dass sie dadurch die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich lenken wollen bzw. müssen, um sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen.“, meint die Klinische Psychologin Schmid. 

Auch Medienpädagogin Schaffranek findet auf der Plattform TikTok einige Merkmale, die sehr attraktiv auf die Kinder wirken. „Die Videos haben ein sehr hohes Erzähltempo, verglichen mit Videos in der Generation, in der wir vielleicht noch aufgewachsen sind. Diese Shorts sind sehr effektvoll inszeniert: Ein starker Audioreiz, ein starker visueller Reiz, gemixt mit bunter Schrift oder hellen Effekten. TikTok-Videos setzen direkte Eyecatcher mit einem Anker an den Anfang: „Ich zeige dir jetzt fünf Dinge und bei Nummer fünf wirst du besonders erstaunt sein“.  

Wie sich Auswirkungen bemerkbar machen: 

Schmid erklärt: „In manchen Studienergebnissen zeigt sich eine Korrelation zwischen Bildschirmnutzung vor dem Zubettgehen und längeren Einschlafzeiten. Auch kann es sein, dass der Gesamtschlaf der Kinder kürzer ausfällt. Die Bildschirme beeinträchtigen dabei durch ihr Licht und die vielen Reize die Schlafqualität – auch bei Erwachsenen. Ein weiterer Punkt, mit dem sich Studien zum Medienkonsum beschäftigen, ist das Essverhalten der Kinder. Beispielsweise wurde in einer Studie beobachtet, dass Vorschulkinder während des Fernsehens kalorienreichere Kost zu sich nahmen. Auch kann übermäßiges Fernsehen im Kindesalter negative Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung, mathematische Fähigkeiten sowie auf die Sprachentwicklung haben.“ 

Damit stellt sich die Frage, wie Eltern damit umgehen: „Soziale Medien hat mein sechsjähriger Sohn zum Beispiel gar nicht, das Einzige, was er sich ansieht, ist YouTube. Aber auch hierbei wurde in letzter Zeit eingeschränkt. Er besitzt ein eigenes Tablet, auf welchem sich Lernspiele befinden. Ich benutze die App Family Link zur zeitlichen Regulierung.  Und ja, ich habe gemerkt, dass er sehr aufgedreht und hibbelig ist, seitdem er das Tablet benutzen darf.“  Deshalb lautet ihr Rat an angehende Eltern: „Nicht verbieten, aber auf jeden Fall kontrollieren. Ein komplettes Verbot würde den gleichen Effekt erzeugen, wie wenn es um Süßigkeiten geht“, schildert eine Mutter.   

Auch aus der Studie „Youtube & Young Children: Research, Concerns And New Directions“ geht hervor, dass das Video eine Aktivität ist, die etwa ¾ der gesamten Bildschirmzeit von Kindern ausmacht (Izci, Jones, Özdemir, Alktebi, Bakir, 2018). Dabei kann die Länge der kurzen Videos auf YouTube Shorts für die Kinder leicht zur Überforderung werden. „Erst im Volksschulalter verstehen die meisten Kinder, wie eine Geschichte aufgebaut ist und erzählen selbst Geschichten, die einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende haben. Auch werden Zeitsprünge immer besser verstanden. Ich denke, dass ein zu kurzes Video den Vorschulkindern wahrscheinlich nicht die Möglichkeit bieten kann, diese komplexen, sich erst entwickelnden Fähigkeiten einzusetzen, da die Handlung aufgrund der Kürze entweder zu schnell abläuft oder relevante Informationen weggeschnitten werden müssen“, meint Schmid. „Ein Szenario, in dem ich mir vorstellen könnte, dass ein kurzes Video einen Mehrwert bieten könnte, ist beispielsweise das Beibringen von Händewaschen. Hier ginge es einfach um eine konkrete, visuelle Darstellung der richtigen Vorgehensweise. So etwas können aber natürlich auch die Eltern im echten Leben vorzeigen.“, fügt sie hinzu.  Schaffranek erklärt: „Man hat ja noch vor Jahrzehnten davon gesprochen, dass es eine Trennung gibt von der Online- und Offline-Welt. Mittlerweile weiß man, dass das nicht so ist. Das kann dann zum Beispiel das Wutmanagement beeinflussen. Erwachsene Menschen gucken sich, wenn sie traurig sind, melancholische Videos an, um so ihre Stimmung zu regulieren. Bei Kindern ist diese Kompetenz noch nicht gegeben und entwickelt sich erst später. Manchmal ist das Ganze schambehaftet und die Kinder trauen sich nicht, sich zu öffnen gegenüber Vertrauenspersonen oder Eltern. Auch die Angst besteht, dass das Smartphone entzogen wird.“ 

Nicht nur von negativen Auswirkungen ist die Rede, sondern es ist auch möglich, dass sowohl die Kreativität als auch die Fantasie von diesen Videos erweitert werden. Laut Schaffranek sei es individuell, wie sich die Inhalte auf die Vorschulkinder auswirken, doch sie kennt einige positive Beispiele aus Praxisnähe. „Wir kochen im Treff ganz oft, da ist die Gruppe manchmal eingeschlafen, aber seit sie diese TikTok nutzen, kommen sie jede Woche mit einem neuen Rezept und haben Lust das nachzumachen. Also ich glaube TikTok kann da in eine Aktivität etwas Leben hineinbringen.“ 

Richtiger Umgang bei der Medienrezeption: 

Die Eltern stehen vor immer größeren Herausforderungen, was die Mediennutzung ihrer Kinder angeht. „Meine Kinder schauen fern und ganz wenig YouTube, ich sage einmal zwei Stunden auf jeden Fall. Auf YouTube schauen sie eben YouTube Kids. Meine fünfjährige Tochter hat viel rund um den ABC-Zug geschaut und davon hat sie meiner Meinung nach viel gelernt, denn sie hat gleich die Buchstaben und auch Farben gekonnt. Sie hören weniger auf mich seit sie die Medien nutzen dürfen und sind sehr überdreht. Schauen dürfen sie grundsätzlich allein. Ich würde sie auf keinen Fall irgendwo allein im Internet etwas schauen lassen. Ich würde eher die Lernvideos empfehlen“, sagte eine Mutter.  Es sei von großer Bedeutung, auch die Eltern in den Prozess miteinzubeziehen, um den Kindern einen verantwortungsvollen und nicht reizüberflutenden Zugang zu liefern. „Ich glaube es ist wichtig, immer im Austausch zu bleiben und mitzubegleiten. Das heißt, zu schauen, für was interessiert sich mein Kind denn. Wie sieht der Algorithmus aus?“, sagt Schaffranek. Schmid ergänzt: „Generell ist es wichtig, dass die Eltern den Kindern Medienkompetenz vorleben. Psychologisch betrachtet ist das Modelllernen ein wichtiger Aspekt der kindlichen Entwicklung.“ Ein weiterer Rat der Psychologin lautet: „Die Nutzung von Smartphone, Tablet und Co. sollte zeitlich begrenzt sein. Kinder und Jugendliche sollten langfristig lernen, die Geräte aus eigenem Willen heraus wieder abzuschalten.“ Mein jüngster Sohn darf circa eine halbe Stunde am Tag die Medien nutzen. Am Tablet haben wir eingestellt, dass es sich nach einer halben Stunde selbst ausschaltet und dann müsste er zu einem Erwachsenen kommen. Und sie dürfen beide nur eingeschränkt schauen. Dafür nutze ich Kindersicherungen. Bei uns ist das zum Teil so, dass sie allein schauen, wenn ich in der Küche stehe, aber manchmal schaue ich auch mit ihnen gemeinsam, am Abend das Sandmännchen zum Beispiel. Sie schauen dann nämlich auch sowas wie die Benny-Challenge auf Disney Channel. Man sollte die Kinder auf jeden Fall nicht alles uneingeschränkt schauen lassen und schon Regeln festlegen“, erzählte eine weitere Mutter über den Medienalltag ihrer Kinder, die fünf und acht sind.  

Die Studie „Vorschulkinder und digitale Medien in der Zweiten Moderne“ zeigt, dass für Kleinkinder im Alter von zwei bis fünf Jahren eine Bildschirmzeit von gerade einmal einer Stunde täglich empfohlen wird, Kleinkinder unter zwei Jahren sollten gar keine Bildschirmzeit aufweisen (Paulus, Gerstner, 2023). „Fernsehen darf meine Tochter nur am Wochenende und dann maximal eine Stunde am Tag. Wenn bei uns geschaut wird, schauen wir meistens über Amazon Prime Kinderserien an. Serien wie Paw Patrol zum Beispiel. Die Serien schauen sie aber grundsätzlich allein. Wenn wir am Wochenende noch schlafen, schauen sie zum Beispiel morgens OkiDoki an. Bei Kindern in diesem Alter ist laut einer Kinderärztin, die wir besucht haben, eine halbe Stunde, das inkludiert alles rund um das Handy oder Tablet, als Zeitlimit nachgewiesen“, berichtete eine andere Mutter über ihren Alltag mit den Kindern.  

In Studien wird empfohlen, dass Eltern Medien wie Fernseher und Tablet mit den Kindern gemeinsam nutzen sollten. Beispielsweise können sie dann über das Gesehene sprechen und reflektieren. Ein Vorteil davon ist zudem, dass die Eltern die Medieninhalte überwachen können, damit ihre Kinder keine unangebrachten, verstörenden Szenen sehen (siehe „Elsagate“).  

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine bewusste Auswahl altersadäquater Medien sowie eine zeitliche Begrenzung dieser eine wichtige elterliche Aufgabe darstellt. Ein übermäßiger und/oder unangemessener Medienkonsum kann vielfältige, negative Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben.  

Julia Schuster | Copyright: Max Peternell