European Capital of Democracy — Warum Wien?

Wien ist zur “European Capital of Democracy 2024/25” gewählt worden. Aber was heißt das? Wer hat das entschieden? Wieso weiß niemand etwas davon? Und warum bitte Wien? 

Von FLORIAN LACKNER

Die Demokratie ist ein Grundwert der Europäischen Union und soll von allen Mitgliedsländern beachtet werden. Entsprechend diesem Grundwert sollen EU-Länder auf demokratischer Basis agieren. Das Konzept der Demokratie ist ein Eckpfeiler der EU-Identität, ebenso wie Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Kultur. Um solche Werte zu fördern, existieren eine Vielzahl von Auszeichnungen für besonders aktive europäische Städte wie: „Kulturhauptstadt“, „Umwelthauptstadt“ oder auch „Jugendhauptstadt“. Diese sind jährlich vergebene Titel, um Aufmerksamkeit auf diese Themen zu lenken und die Lebensqualität innerhalb der EU zu verbessern. Eine „Demokratiehauptstadt“ gab es jedoch bisher nicht. Josef Lentsch, ein ehemaliges Mitglied des Innovation in Politics Institute, eine private Zivilgesellschaft mit Sitz in Wien, die politische Schwierigkeiten im Bereich Europa analysiert und dazu Lösungen publiziert, kam auf denselben Gedanken während einer Taxifahrt im Jahre 2019. Daraus entstand die Idee für das Projekt „European Capital of Democracy, kurz ECoD“, welches Ende 2021 offiziell als gemeinnützige GmbH gegründet wurde. 

Die zugrunde liegende Idee ist simpel: Gibt es einen Preis, werden alle teilnehmenden Städte darum wetteifern, ihn zu erringen. Wird der Preis nur der „demokratischsten Stadt“ verliehen, muss man also demokratischer werden, um zu gewinnen. Die Siegerstadt, gewählt von einem Team von Expert*innen, die eine Kandidatenliste für eine Bürger*innen-Jury zusammenstellen, wird zum Mittelpunkt des jeweiligen „Demokratiejahres“. Hier sollen mithilfe von ECoD eine Vielzahl von Aktivitäten und Initiativen organisiert werden, um Bürger*innen in die Stadtpolitik einzubinden, Gemeinden zu unterstützen und eine lebenswertere Umgebung zu schaffen. Klingt schön, aber kaum jemand weiß davon. 

Ein vollkommenes Phantom  

Die Initiative ist scheinbar wenigen ein Begriff, geschweige denn, dass Wien zur Demokratiehauptstadt 2024/25 gekrönt wurde. Bei der Suchanfrage „Demokratiehauptstadt Wien“ tauchen hauptsächlich vereinzelte Beiträge in Tageszeitungen und in einigen lokalen Medien zum Wahlsieg auf. Der Suchbegriff „Kulturhauptstadt Graz“ weist währenddessen sogar aktuelle Artikel von internationalen Medien wie die Zeit auf, welche 20 Jahre nach dem Ereignis immer noch darüber berichten. In den sozialen Medien sieht es ebenfalls nicht besser aus: Beiträge der ECoD-Accounts bewegen sich durchschnittlich im Bereich von fünf bis 15 Likes auf Facebook, X (ehemals Twitter) und Instagram. Auf der Business-Plattform LinkedIn erzielt die Initiative zwar eine bessere Reichweite, ist jedoch klarerweise hier auf ein hauptsächlich geschäftsorientiertes Publikum beschränkt. Es stellt sich die Frage, woran die Publicity der Initiative scheitert, denn die Demokratie lässt sich nicht feiern, wenn niemand weiß, dass es überhaupt eine Feier gibt. 

„Man lernt immer, wenn man etwas zum ersten Mal macht“, erzählt Stefan Sindelar, CEO von European Capital of Democracy, über seine Erfahrungen mit der vorigen und ersten Demokratiehauptstadt Barcelona. „Das trifft dann auch die Frage: ‚Warum passiert nach der Ankündigung so lange nichts?‘ Wir brauchen diese Zeit. Wir haben das in Barcelona gesehen. Es war unsere erste Stadt, vieles war beiden Seiten in der Umsetzung noch unklar.“  

Tatsächlich ist Wien erst die zweite Demokratiehauptstadt in der Geschichte der Initiative. Das Projekt steckt also noch in seinen Kinderschuhen. Barcelona wurde zuvor zur Demokratiehauptstadt für 2023/24 gewählt und ihr Teil des Demokratiejahrs endet erst im November 2024, das dann mit der Eröffnung des Wiener Programms weitergeführt wird. Obwohl ECoD zwar schon seit 2020 existiert, hat es erst mit dem Programmstart in Barcelona im Oktober 2023 die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen. Es ist kein Wunder, dass die Initiative noch relativ unbekannt ist. 

Aber wo der Ruf allein nicht für breites Interesse ausreicht, lässt sich doch mit herkömmlicheren Kommunikationsstrategien nachhelfen. Genaugenommen gibt es doch keinen passenderen Partner bei solch einer Bestrebung als die Stadt Wien selbst. Grundsätzlich wäre es wohl in ihrem Interesse, so viel Aufmerksamkeit wie möglich auf ein Programm zu lenken, das sich um bestehende und zukünftige Errungenschaften der Stadt Wien dreht. Eine erhöhte demokratische Bürger*innen-Beteiligung ist gleichermaßen für Wien wünschenswert. Selten gibt es bessere Gelegenheiten, um Bürger*innen in die Stadtpolitik einzubinden. Dennoch ist im öffentlichen Raum das blau-orange-pinke ECoD-Logo nicht zu erblicken. Weder auf den zahllosen Werbewänden in der Stadt noch als kurzer Einschub im INFOSCREEN-Programm beim Warten auf die öffentlichen Verkehrsmittel.  

Laut Sindelar ist zwar ein großes Kommunikationspaket mit der städtischen Abteilung für Kommunikation und Medien geplant, aber viele genauere Details sind noch nicht festgelegt. Klar ist jedoch, dass im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Stadt die Eröffnung auch in die individuellen Bezirke getragen werden soll, denn ein einzelner Festakt im Rathaus würde nicht widerspiegeln, wofür ECoD stehen will. „Menschen sollen mitbekommen, dass es hier jetzt ein Jahr lang um das Zusammenleben und die Weiterentwicklung der Stadt geht“, erklärt Sindelar. „Es muss jetzt gar nicht überall ganz groß ‚Demokratie‘ draufstehen. Demokratie ist eigentlich, sich auszumachen, wie man miteinander auf doch engem Raum in der Stadt lebt, gemeinsame Prioritäten setzen, Dinge verbessern und sich in politischen Prozessen einzubringen.“ 

Die Unterscheidung zwischen der klassischen Definition von Demokratie und der pragmatischeren Ansicht des Begriffs, die Sindelar beschreibt, ist nicht ohne Grund, denn das Thema „Demokratie“ weckt nicht unbedingt überall Gefühle von Interesse oder Beteiligungsfreude bei Menschen. Denkt man über das Thema Demokratie nach, kommen einem typischerweise Bilder von seriös gekleideten Politiker*innen, langen Parlamentsdiskussionen, Wahlen und großen gesellschaftlichen Problemen in den Sinn. Konzepte, die oft vage, alltagsfern und kompliziert wirken. Vergleicht man dies mit dem Begriff „Kultur“ oder „Kulturhauptstadt“, merkt man einen deutlichen Unterschied: Assoziationen bewegen sich im Bereich des Unterhaltsamen, Interessanten und Unbekannten.  

Zu „Kultur“ haben Leute Meinungen und konkrete Vorstellungen, meint Sindelar, aber Politik wirkt im Vergleich oft abstrakt und undurchdringlich. „Deswegen wollten wir nicht im Demokratiejahr Fachkonferenzen, Experten*innen-Panels und so weiter allein haben, sondern uns ist wichtig, dass Bürger*innen-Initiativen einen Raum haben.“ Laut Sindelar könnte man durch diese konkreteren Ansätze die Demokratie so greifbarer für Bürger*innen machen. „Städte sind dann auch geeignete Testorte, um tatsächlich mit den Bürger*innen Lösungen umzusetzen.“ Mithilfe der Stadtdemokratie soll ihnen das Mitbestimmen nähergebracht werden, um so nicht nur eine positive Veränderung im eigenen Bezirk, sondern auch langfristig im breiteren Rahmen der Politik in Wien und auch Österreich zu bewirken. Ein mutiger Ansatz, aber dennoch bleibt eine große Frage offen: Warum Wien? 

Lebenswert, Demokratie und die große Stadt 

„Die Wiener Art: Gestärkte Demokratie in der lebenswertesten Stadt.“ So stellt sich die Stadt Wien in ihrer öffentlichen Bewerbung für den ECoD-Titel vor. Gleichzeitig präsentiert sie so ihr Mission Statement. Ziel dieses sogenannten Demokratiejahres soll der Ausbau von Möglichkeiten für Wiener*innen sein, an der Gestaltung ihres Lebensumfeldes mitzuwirken.  

Warum genau Wiens Bewerbung den Sieg errungen hat, kann Stefan Sindelar nicht persönlich kommentieren. Als Österreicher darf er innerhalb der Bürger*innen-Jury nämlich nicht für Städte im eigenen Land wählen. Selten ist man dem eigenen Land gegenüber vollkommen objektiv. Eine verständliche Einschränkung, um zu verhindern, dass man sich selbst als Demokratiehauptstadt krönt. Trotzdem kann er verraten, auf welche drei Dinge die Bürger*innen-Jury am meisten beim Wahlprozess schaut:  

Erstens, auf einen „großen Impact“ in Sindelars Worten. Projekte sollen die Leben vieler Menschen in relevanten Gebieten stark beeinflussen. Zweitens schätzen Bürger*innen Neues und nicht sehr oft Vorgekommenes. Wie auf der Homepage der Initiative www.capitalofdemocracy.eu nachzulesen ist, ist das Kulturlabor Gemeindebau besonders gut bei der Jury angekommen. Die direkte Inklusion von Kunst und Kultur mit dem Raum der Gemeindebauten zählt laut ECoD-Evaluation als Vorzeigebeispiel für partizipative Bürger*innen-Projekte auf internationaler Ebene. Zuletzt soll auch Nutzen und Aufwand stimmen. Laut Sindelar erhielten viele theoretisch interessante Projektideen anderer Städte nur mittlere Bewertungen von Jurymitgliedern, da sie in der Praxis nicht den Aufwand rechtfertigen, der dafür nötig gewesen wäre. 

„Einfache Lösungen, breiter Impact, mutig und innovativ. Das war der Mix, der die Juror*innen am meisten überzeugt hat.“ Offiziell soll das Programm von ECoD und der Stadt Wien Mitte November 2024 beginnen. Wie viel davon tatsächlich an die Öffentlichkeit dringen wird, steht noch in Frage, denn vieles über die praktische Realität der Aufklärungsarbeit, die sowohl der Initiative als auch der Stadt Wien bevorsteht, ist zur Zeit der Verfassung dieses Artikels noch nicht vollkommen ersichtlich. Jedoch müssen diese derzeitigen Probleme noch nichts bedeuten. Wien ist Demokratiehauptstadt für ein ganzes Jahr, in dem sich noch zahllose Möglichkeiten bieten werden, European Capital of Democracy den Wiener*innen näherzubringen. Man darf hoffen, dass künftige Wahlen zur Demokratiehauptstadt mehr Interesse und Diskussion als zuvor mit sich bringen. 

Florian Lackner | Copyright: Max Peternell