VR-Gaming – Die Welt außerhalb der Brille

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Virtual Reality bietet seinen RezipientInnen simulierte Welten, denen sich die jeweiligen SpielerInnen mit Kreativität, Entdeckungsfreude und Mut völlig hingeben. Um die Welt hinter diesen Welten zu verstehen, diskutierte SUMO mit Jörg Hofstätter und Julia Rose vom Entwicklerstudio ovos aus Wien, und Dr. Dominik Batthyány, dem Leiter der Therapie- und Beratungsstelle für Mediensucht an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien.

„Erfreulich wenig“, antwortet Gründer und Geschäftsführer von ovos, Jörg Hofstätter, auf die Frage, was man benötigt, um ein VR-Game heutzutage umzusetzen. Bereits zwei bis drei Personen, die die Aufgaben des Game and Asset Design sowie des Development übernehmen, sollen dank immer günstiger werdender Hardware reichen, um ein kleines Spiel in VR zu entwickeln. Redakteurin sowie Content und Game Designerin Julia Rose fügt jedoch weiterführend an, dass zuvor – bevor das Projekt überhaupt das Tageslicht erblickt – eine den Einsatz der VR-Technologie rechtfertigende Vision von Nöten sei. Denn die Coolness des Formats reiche nicht aus, um ein Spiel in 3D zu gestalten.

Unterhaltsam, lehrreich, spielerisch

Sollte sich jedoch ein Entwicklerstudio für diese Technologie entscheiden, kann diese für mehr als nur Unterhaltungszwecke eingesetzt werden. Der Game Development Studie 2019, die im Auftrag des Fachverbandes Unternehmensberatung, Buchhaltung und Informationstechnologie (UBIT) und in Kooperation mit der Wirtschaftskammer Österreich verfasst wurde, ist zu entnehmen, dass es drei grundsätzliche Projektarten gibt. Neben Entertainment Games gibt es noch Education Games und Serious Games, die im Gegensatz zu den beiden erstgenannten nicht ihre Erklärung bereits im Namen finden. Diese Spieleart fokussiert auf die Vermittlung von Inhalten, die unterhaltsam sein können, aber nicht sein müssen. Dabei lag der Schwerpunkt der innerhalb der Studie befragten Spiele-EntwicklerInnen jedoch klar auf Entertainment Games, da 87% von ihnen diese bereits entwickelten hatten, ein rund dreimal höherer Wert als bei den anderen beiden Kategorien. Der Spielfaktor wird dabei aber bei keiner der drei vernachlässigt und findet auch Anwendungsmöglichkeit außerhalb der eigenen vier Wände. So könne sich Hofstätter vorstellen, dass es eines Tages neben Laptop- auch VR-Klassen an Schulen geben werde, die die Technologie zur spielerischen Vermittlung von Inhalten oder für z.B. virtuelle Exkursionen nützten. Das sei allerdings eine Frage der Hardware, also VR-Brillen wie Oculus Rift, die Software würde es geben. Grundsätzlich beeindrucken den ovos-Gründer und -Geschäftsführer dabei die konstruktiven und kreativen Möglichkeiten von VR Learning Games, die mit der Hand-Augen-Interaktion die SpielerInnen dazu motivieren, mit dem Körper zu arbeiten.

Eine sehr körperliche Erfahrung können im Bereich der Entertainment Games VR-Spiele mit Horrorelementen sein. Games wie „Phasmophobia“ nutzen die Game Mechanics von VR laut Rose sehr gut aus und durch die fehlende Distanz zum Bildschirm und eine komplette 360 Grad Umgebung könne der Rausch nochmal stärker eintreten als beim Spielen auf der Konsole oder auf einem PC.

Gaming-Sucht

Eine intensivere Spielerfahrung, die zu mehr Dopaminausstoß führt, komme einer Dosissteigerung gleich, die darauf schließen lassen könnte, dass VR der nächste logische Schritt für Menschen mit Computerspielsucht ist. Doch bis jetzt ist Batthyány in seinem Berufsalltag in der Therapie- und Beratungsstelle für Mediensucht an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien noch niemanden begegnet, der aufgrund einer expliziten VR-Gaming-Sucht dort Hilfe gesucht hätte. Eine Gaming-Sucht als Verhaltenssucht unterscheidet sich in ihren Grundfesten nicht von anderen, substanziellen Süchten, so Batthyány. Kennzeichen seien der Kontrollverlust über das eigene Verhalten, negative Folgen für schulische und berufliche Leistungen sowie für Beziehungen. Weiters erklärt Batthyány, dass Menschen, die unter einer Suchterkrankung leiden das Interesse an Aktivitäten verlieren, die davor von großer Bedeutung für sie waren. Sofern Kinder und Jugendliche betroffen sind, treten meistens deren Eltern in Kontakt mit Batthyány und suchen Hilfe. Dabei unterstreicht er allerdings, dass es sich bei Problemen rund ums Spielverhalten nicht automatisch um eine Sucht handeln müsse, sondern auch der Fall vorliegen könne, dass die jeweilige Familie noch nicht den richtigen Weg gefunden hat, Gaming in den Alltag möglichst harmonisch und ausgewogen zu integrieren.

Der Geschlechterunterschied

Sollte es zu einer Sucht kommen, seien Buben und Männer eher davon betroffen als Mädchen oder Frauen, so Batthyány. Den Geschlechterunterschied in der Nutzungsdauer verdeutlichen auch die Ergebnisse von „Mediensucht 2020“, einer deutschen Längsschnittstudie im Auftrag von DAK-Gesundheit. Die stärkste Gruppe in punkto Nutzungsdauer ist die der 16- bis 18-Jährigen, wobei die Angaben der befragten Jungen eine durchschnittliche Spieldauer von 273 Minuten an einem normalen Wochenendtag ergeben und somit den Durchschnittswert der gleichaltrigen Mädchen um rund 100 Minuten übertrifft. Batthyány führt diese Ergebnisse auf die Befriedigung männlich-spezifischer Bedürfnisse zurück, zu denen unter anderem das Erleben von Abenteuern oder die Umsetzung von Projekten zählten. Weitere Motive für das Gaming-Verhalten, die von den in der DAK-Studie befragten Kindern und Jugendlichen angegeben wurden, sind etwa das Bekämpfen von Langeweile, die Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten oder die Flucht von der Realität. Batthyány sieht bei VR-Gaming die Möglichkeit, in eine Welt einzusteigen und abzutauchen, die die Realität noch besser imitiert als andere Spieleformate, etwa Konsolenspiele. Das mache für viele auch die Faszination aus. Es sei auch denkbar, dass VR-Gaming einem Eskapismus, also dem Wunsch nach Realitäts- oder Weltflucht, sehr entgegenkommt und bei Suchtverhalten als eine für diese typische Dosissteigerung fungieren könnte. Dosissteigerungen können, so Batthyány, durch Steigerung der Ereignisfrequenz immer längere Einheiten und extremere Inhalte erreicht werden. Ein immersives VR-Horror-Game könnte womöglich die gewollte Dosissteigerung bewirken.

Das Bein nie schwächer werden lassen

Die beste Prävention einer Gaming-Sucht seien für Batthyány Lebenskompetenzen, also Mechanismen, die uns helfen mit den Problemen des Alltags umzugehen und uns nicht dazu veranlassen, eine alternative Strategie zu wählen, die in einer Sucht enden könnte. Batthyány zeichnet dabei das Bild eines angeschlagenen Beins, das nur durch eine Krücke aufrecht gehalten werden kann. Das Bein steht hier für Probleme im Leben und die Krücke für das jeweilige Suchtverhalten. Je länger man die Krücke verwende, desto schwächer werde das Bein und desto weniger habe man gelernt, mit den eigenen Problemen umzugehen. Die Quintessenz dieser Metapher ist, das Bein nicht schwächer werden zu lassen und Lebenskompetenzen aufzubauen. Sollte das nicht gelingen, dann könne man auf kein Playbook zurückgreifen, um die Gaming-Sucht zu behandeln. Batthyány hebt hervor, dass jeder Fall unterschiedlich sei und nur die Suche nach dem individuellen Auslöser Heilung bringe. Ein grundsätzlich gesunder Umgang mit Gaming ist jener, der von den SpielerInnen kontrolliert wird, also selbstbestimmt ist, der Freude bereitet und genug Raum bietet für andere Aspekte des Lebens, beschreibt Batthyány abschließend.

Dann kann man die Gaming-Erfahrung eines VR-Spiels auch wieder voll genießen, die Game-DeveloperIn Julia Rose als eine sehr persönliche beschreibt, da ja einem/r die simulierte Welt sehr nahekomme. Dass eine virtuelle, bessere Welt die tatsächliche irgendwann ersetzen könnte, liegt für Rose noch in ferner Zukunft. Derzeit sei man noch sehr froh, wenn man Brille wieder abnehmen und gegen das echte Leben eintauschen kann.

von Paul Jelenik