Die Entstehung der Interaktion im Radio spielt eine wesentliche Rolle für die Geschichte der Rundfunkunterhaltung. SUMO hat mit Hans-Ulrich Wagner, Senior Researcher am Leibniz-Institut für Medienforschung in Hamburg und Christoph Classen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, gesprochen, um den Ursprung zu rekonstruieren.
von BENEDIKT WASER
„Man kann es den Hörerbriefen entnehmen: Es gibt von Anfang an stark dieses Interesse, Einfluss auf die Inhalte zu nehmen“, so Classen. Generell: Radio senden bedeutet im Englischen Broadcasting und kann auch mit dem Streuen von Samen übersetzt werden. Diese Idee des Broadcasting wohnt dem Rundfunk seit seinem Beginn inne. Wenn jede*r senden kann, kann auch jede*r zurücksenden und mitmachen. Damit stellt sich die Frage: Wann startete das Radio in dieser Form?
Von den Anfängen bis zu modernen Formaten
Hans-Ulrich Wagner beschreibt die Geschichte des Mitmachens im Radio als eine fortlaufende Entwicklung, die von den ersten zaghaften Versuchen in den 1920er Jahren bis hin zu den heutigen interaktiven Formaten reicht.
„Der Versuch, Mitmachen im Radio zu erforschen, scheitert oft am Quellenproblem – Unterlagen sind oft nicht erhalten“
Hans-Ulrich Wagner
Senior Researcher am Leibniz-Institut für Medienforschung, Hamburg
Historiker*innen stünden vor der Herausforderung, historische Mitmachaktionen im Radio mit Hilfe von wenigen Dokumenten zu rekonstruieren. Glücksfälle wie gelegentlich erhaltene Hörer*innenbriefe bieten dann wertvolle Einblicke in die Vergangenheit und spiegeln bestimmte Formen der Reaktionen der Hörer*innen auf Sendungen wider. Wagner betont, dass das Radio ursprünglich als Bildungsmedium konzipiert war, mit dem Ziel, die Menschen zu erziehen und zu informieren. Die Trennung zwischen Produzent*innen und Publikum sei so deutlich spürbar gewesen.Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt die sowohl von Wagner als auch Classen aufgegriffene Sendung Hallo Ü-Wagen dar, die in den 70er und 80er Jahren beim Westdeutschen Rundfunk in Köln ausgestrahlt wurde. Durch den Einsatz mobiler Übertragungswagen konnten Produzent*innen direkt vor Ort mit den Menschen sprechen und ihre Anliegen in die Sendung integrieren. Bei dieser Sendung sollte eine offene Diskussion geführt und unkonventionelle Themen aufgegriffen werden.
Pionierrolle und internationale Entwicklungen
In Bezug auf die Pionierrolle beim Mitmachen im Radio sieht Wagner Deutschland als einen wichtigen Akteur. Obwohl die BBC oft als Vorreiter betrachtet werde, habe Deutschland eine bedeutende Rolle bei der Weiterentwicklung der Interaktivität im Radio gespielt. Europa stand dem privatwirtschaftlichen amerikanischen Rundfunk ablehnend gegenüber. Die technische Organisation der USA prägte allerdings das Mitmachen. Außerdem veranstalteten Private schon früh Call-In-Sendungen.
Christoph Classen ergänzt diese Sichtweise mit seinen Erkenntnissen zum Amateurfunk, der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft und den politischen sowie wirtschaftlichen Zwecken des Mitmachens. Classen hebt hervor, dass der Amateurfunk in Nordamerika schon vor dem Radio existiert und gewissermaßen eine Vorläuferrolle in der interaktiven Kommunikation gespielt habe. Er ist im Sinne der Internationalen Fernmeldeunion ein Funkdienst, der von Laien ohne finanzielle Interessen zur Selbstausbildung, zur gegenseitigen Verständigung und für technische Untersuchungen betrieben wird. Classen beschreibt, wie der Amateurfunk in den Vereinigten Staaten zunächst unreguliert war und erst im Laufe der Zeit Einschränkungen eingeführt wurden, um Interferenzen – sprich Überlagerungen von Senderwellen – zu vermeiden. Auch für Österreich gibt es mit Radio Hekaphon ein Beispiel. Es war der erste Hörfunksender des Landes und nur für zwei Jahre in Betrieb, nämlich 1923 und 1924. Radio Hekaphon entstand auf private Initiative und war ein Versuchssender zur Ausstrahlung eines gestalteten Sprach- und Musikprogramms. Betreiber waren die Vereinigten Telephonfabriken AG Czeija, Nissl & Co. Oskar Koton war leitender Ingenieur, Cheftechniker und Sprecher. Bert Silving war Musikdirektor. Auch die Propagandist*innen im nationalsozialistischen Deutschland wussten das Radio geschickt einzusetzen. Abseits der breitflächigen Versorgung mit Radiogeräten setzte man auch auf die Aktivierung des Publikums. Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Classen anspricht, ist das Wunschkonzert der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft. „Das Wunschformat gab es schon in den 20er Jahren“. In der NS-Zeit sei das Wunschkonzert des Winterhilfswerks erfunden worden, bei dem Liederwünsche an eine Spende gebunden waren. Im 2. Weltkrieg sollte diese Möglichkeit der Musikwahl die Verbindung zwischen den Soldaten an der Front und ihren Freunden und Angehörigen zu Hause stärken. Das Wunschkonzert der Wehrmacht gehörte in Deutschland in dieser Zeit zu den populärsten Radiosendungen.
Propaganda und kommerzielle Interessen
Auch nach der NS-Ära hatte das Radio eine politische Dimension: Im Kalten Krieg, in der Zeit zwischen 1947 und 1989, wurde der Konflikt zwischen den Westmächten und dem sogenannten Ostblock unter Androhung des Einsatzes von Atomwaffen ausgetragen. Laut Classen wurden in dieser Zeit politisch motivierte Sendungen als Mittel der Propaganda eingesetzt. Kommunistische und liberale Denkweisen konkurrierten um die Deutungshoheit. Bekanntlich machen Radiowellen nicht an Grenzen halt. Kommerzielle Sender wie Radio Luxemburg sendeten grenzüberschreitend, um Werbeeinnahmen zu generieren. Von Luxemburg aus wurden Programme in die europäischen Nachbarländer gesendet, die in der jeweiligen Landessprache speziell für die Zuhörer*innen in Frankreich, England, der Bundesrepublik und den Beneluxstaaten konzipiert waren. In der Bundesrepublik erfreute sich der Sender vor allem in den 70er und 80er Jahren großer Beliebtheit. In sozialistischen Staaten konnten solche Sender zwar empfangen werden, doch seien die dortigen Publika für die Werbeindustrie nicht relevant gewesen. Aber hier gab es eine politische Dimension: Die Bürger*innen der DDR konnten Rundfunkprogramme der BRD empfangen und freilich gab es auch Publikum. Von den Radioproduzent*innen wurde das dortige Publikum kaum beachtet, ergänzt Classen.
In den 1980er Jahren etablierte sich in Europa in unterschiedlichen Geschwindigkeiten das duale Rundfunkmodell, das sowohl öffentlich-rechtliche als auch private Sender umfasste. In Deutschland wurde es 1984 eingeführt, in Österreich bekanntlich spät: Im Jahre 1998. Radio Steiermark und Radio Melody wurden jedoch schon ab 1995 gesendet. Das duale Rundfunkmodell führte dazu, dass Sender wie Radio Luxemburg ihre Strategien anpassten, um mit der vergrößerten Konkurrenz mithalten zu können. Sie verloren ihr Geschäftsmodell des grenzüberschreitenden Rundfunks und mussten sich um Lizenzen in den jeweiligen Ländern bewerben.
Identität, Internationalität und Interaktivität
Die Ätherwellen überwinden also nationale Grenzen. Damit stellt sich die Frage, ob die Idee eines internationalen Radios noch nie da war. Ganz im Gegenteil: Laut Classengab es schon immer die Vision eines internationalen Radios. Sie beinhaltete die Vorstellung, dass dieses Medium die Länder miteinander verbindet und zu einer friedlicheren Welt führt. Andererseits wollten Nationalstaaten jedoch die Kontrolle über dieses einflussreiche Medium behalten. Große Sender wie RTL seien zwar in so gut wie ganz Europa präsent, doch die Programme werden oft national produziert und ausgestrahlt. „Das ist auch wichtig, um überhaupt dieses kulturelle Feeling zu haben, wie man dort Radio machen muss“, so Classen. Er betont, dass Musik als universelle Sprache Grenzen überwindet, während Wortprogramme aufgrund von Sprachbarrieren international weniger anerkannt seien.
Mitmachen ja, die Idee der Interaktivität im Radio bleibt bisher aber eine Vision. Es ist ein Medium, das nicht direkt interaktiv ist. „Radio ist Point to Many“, behauptet Classen. Es sei schwierig, einen unmittelbaren Draht zwischen Sender und Hörer*innen herzustellen. Die Vision eines Radios, bei dem jeder zum Absender werden kann, sei im Internet realisiert worden.
„Jeder kann selbst auch zum Sender werden. Man ist nicht nur Konsument von irgendwas, was einem gesellschaftliche Eliten vorsetzen“
Christoph Classen
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
„In Social Media ist es ja realisiert. Aber ich glaube, das Ergebnis würde Bertolt Brecht jetzt nicht glücklich machen“ erklärt Classen mit Anspielung auf dortige liberale und kapitalistische Strukturen. Er zieht einen Vergleich zur Amateurfunkbewegung, die bereits in den 1970er Jahren das Potential einer freien Kommunikation für jedermann erkannte. 1978 formulierte der deutsche Amateurfunk das sogenannte CB-Manifest, das eine herrschaftsfreie Kommunikation propagierte. Es brachte auch Wünsche einer mobilen Kommunikation zum Ausdruck, die sich erst später mit Handy, WLAN und sozialen Medien als alltägliche Kommunikationskultur verwirklichen sollte.
Die Idee des Radios als Kanal für Interaktivität wird mit der Digitalisierung also technisch ermöglicht. Dies bedeutet, dass digitale Plattformen eine noch interaktivere Radiolandschaft schaffen und die Hörer*innenschaft aktiv ins Programm einbeziehen. Eine entsprechende Vermarktung, um ein interessiertes Publikum zu erreichen, ist anzuraten. Damit lässt sich die ursprüngliche Vision des Mediums doch noch realisieren.